An die in Berlin
(30.11.1918)
Man schimpft zwar »Landesverräter«, aber das kann uns nicht abhalten, aufrichtig zu sein. Man wird uns im Ernste nicht zumuten, die Sache da, die man in Deutschland eine Revolution zu nennen beliebt, dafür gelten zu lassen.
Was ist denn geschehen? Nicht einmal die patriotische Phrase ist gebrochen. Die Gendarmerie-Organisation, die man »Arbeiter- und Soldatenrat« nennt, funktioniert ausgezeichnet. In Lennep (bei Köln) gelang es zwar nicht zu verhindern, daß die »zurückflutenden« Truppen der 5. Armee die rote Fahne (eine Art Signalflagge, siehe Eisenbahndienst) herunterholten und die preußische Kriegsflagge hißten. In Remscheid (rheinisches Industriegebiet) haben Fronttruppen den Arbeiter- und Matrosenrat sogar eingesperrt. Aber solche Zusammenstöße zwischen harmlosen Passanten und gereizten Polizisten gab es in Preußen ja stets, man muß sie nicht tragisch nehmen. Es fiel auch ein Schuß, doch traf er nur die Katze.
Ruhe und Ordnung, so heißt die Parole. Gegen die Übergriffe der Polizei (alias Arbeiter- und Soldatenrat) schützt die Regierung. Noch immer hört man: »Die Vöglein im Walde, die sangen so wunder-wunderschön«, und »Die Helden, die jetzt aus langem Kampfe zurückkehren, haben gleich den Toten die Ehre des deutschen Namens gewahrt, eine Ehre, die für diese Männer nie ersterben kann«.
Helden nämlich, sind das jene Kindsköpfe und seit vier Jahren gezüchteten Kriegsrekordschläger, die sich einbilden, nicht geschlagen zu sein, weil sie noch auf zwei Beinen gehen können? Helden, sind das jene Handlanger einer vom Feinde gestürzten Monarchie, die sich von Flaggenschmuck und Salbaderei einer an Arm und Bein vor Angst und schlechtem Gewissen zitternden Bürgerschaft täuschen lassen? Helden, sind das all die Gutweggekommenen, die jetzt Karessen einstecken für die verendete Qual derer, die draußen verfault und verschimmelt sind?
In Berlin aber tagt man und überlegt, ob es eine sozialistische oder bürgerliche Revolution werden soll. Man weiß nicht genau. Für den Sozialismus spricht die Internationale, jene famose Erfindung des Pangermanisten Karl Marx, von der man bereits ein wenig enttäuscht ist, weil sie nicht größere Wirkung tut. Für das Bürgertum sprechen Ruhe und Ordnung, Rettung der »Einheit« und Rettung des »Vaterlandes in seiner schwersten Stunde«.
Ihr einziger Eisner fällt unangenehm auf durch die Insistenz, mit der er auf Erörterung der Schuldfrage besteht. Er scheint es sich in den Kopf gesetzt zu haben: Die Schuldfrage müsse erörtert werden.
Also hat er dem alten Generalfeldmarschall mit dem künstlerischen Gesichtsausdruck und der Feldwebelfrisur zu verstehen gegeben, er möchte gefälligst seine Phrasen bleiben lassen, und also hat er dem völkerverbindenden Herrn Erzberger von der schwarzen Seelenpolizei bedeutet, daß man zur Friedenskonferenz anständigere Personagen, als ihn, den Herrn Erzberger, werde zu schicken genötigt sein. Und also schlägt er vor — was den Beginn einer größeren Munterkeit bedeuten kann —, Staatsgerichtshöfe einzusetzen und die Frage der Schuld mehr systematisch in Schwung zu bringen.
Der gute Herr Bethmann schlottert bereits und stammelt allerhand unzusammenhängende Fragmente von »Mängeln des deutschen Nationalcharakters und Sünden allgemeinen Gebarens«, die zu der kriegerischen »Hochspannung« beigetragen haben sollen. Beruft sich auf Suchomlinow (als ob ein Sachverständiger für die Schuldfrage, unser J'accuse-Mitarbeiter Dr. Richard Grelling, in Berlin noch nicht eingetroffen sei) und denunziert die »sogenannte Flottenpolitik« des Herrn von Tirpitz (der seinerseits, glücklich rasiert, den freundlichen Bannkreis der Schweiz erreicht hat).
Man schließe die Grenze, man lasse keinen mehr reisen. Es wird sonst notwendig sein, einen internationalen Gerichtshof neben dem Staatsgerichtshof heftig zu fordern für alle diejenigen, die da glauben, durch einen Klimawechsel ihre Lumpenseele retten zu können. Und man verlange die Auslieferung der flüchtigen Herrschaften von Holland, der Schweiz und Skandinavien, um dem Stigma zuvorzukommen, das die Errichtung eines Gerichtshofes im Ausland dem Renommee unserer »Wiedergeburt« belassen würde.
Die moralische Revolution marschiere: Sie ist wichtiger als die soziale oder politische. Denn sie allein restituiert die beleidigte Menschheit.
Laßt Eure Doktrinen beiseite und haltet Euch an die Realitäten des Alltags! Packt Eure abgeklapperte Internationale ein, oder zieht eine höchst nationale Konsequenz aus ihr! Je strenger Ihr in der Praktik der Schuldfrage seid, desto rascher werdet Ihr »Ordnung« schaffen. Je peinlicher Ihr dem Gewissen folgt, desto eher wird »Ruhe« und »Einheit« sein. Sie, Franz Pfemfert, sollten jetzt keine »antinational«-sozialistischen Aufrufe ins Ausland senden, die Herr Dr. Ehrenstein unterschreibt und in denen zu lesen ist, der deutsche Militarismus sei gestürzt. Das trifft auf die Materie zu, nicht aber auf den Geist. Und Sie, Herr von Gerlach, mögen nicht allzu sehr jubeln über »das größte Glück für Deutschland, daß wir jetzt angesichts des Friedenskongresses eine sozialistische Regierung haben«. Eine regierende deutsche Sozialdemokratie mit all ihrer reichlich konfusen Einstellung zur neuen demokratischen Idee ist keineswegs das höchste Glück auf Erden, und das Auswärtige Amt in Berlin ist noch immer nicht verhaftet, trotzdem es sich so energisch gegen die Veröffentlichung belastender Dokumente wendet. Sie aber, Prinz Max von Baden, bedienen sich in einer Antwort an das englische Rote Kreuz der Worte »unritterlich« und »unchristlich«, als sei Ihrer hochedlen Feder seit August 1914 Protest auf Protest gegen die maßlosen belgischen, serbischen, finnischen Greuel entsprossen.
Diese vertrackte Nation wiegt sich noch immer im fröhlichen Glauben, vom alten Jehova erwählt zu sein; Leid verhängen zu dürfen, doch selber verschont zu bleiben. Ex est. Man wird sich gewöhnen müssen, daß die Vergeltung naht, automatisch, einem verlassenen Volke, furchtbar wie das Verbrechen war. Jetzt ist die Zeit, durchzuhalten, für uns gekommen. Es gilt auf dem Posten zu sein.