Ein Wendepunkt deutscher Geschichte
(11.2.1920)
»Eine ungeheure Erregung hat sich Deutschlands bemächtigt.« Das heißt: man ist aufgewacht. »Ein Sturm der Entrüstung tobt durch das Volk.« Das heißt: man hielt den § 228 des Friedensvertrags für eine Phrase, und es stellt sich heraus, der Moralgesichtspunkt ist keine Phrase. »Deutschland ist tief beunruhigt und erbittert.« Das heißt: man bemüht sich, den Anschein zu erwecken, als wisse man nicht, was man in vier langen Kriegsjahren deutscher »Freiheit« verbrochen hat.
Das Auslieferungsbegehren der Alliierten ist nicht das Wichtigste. Das in der Geschichte Deutschlands unerhörte Faktum ist, daß die nach deutschen Begriffen verdientesten, nach den Begriffen der zivilisierten Welt aber ehrlosen Führer, nach deutschen Begriffen die Helden der Freiheit, nach Weltbegriffen aber die Schergen der Versklavung, als Kriminelle nicht nur gekennzeichnet, sondern mit ehernem Ernste behandelt werden. Die »Phrase« wird Wirklichkeit.
Den deutschen Realpolitiker entsetzt die Wirklichkeit; wenn sie ihn selber trifft. Er hat ein dickes Fell, aber ein zartes Gemüt. Der groteske Dünkel dieser Leute glaubt Schicksale leichthin verhängen, aber nicht sie erleiden zu dürfen. Er hat nur Pech, nie Unglück. Er schiebt nur die andern vor, er selber entgeht jeder Folge. Entrüstung? Ehrgefühl? Selbstachtung? Als man die Randbemerkungen des Rüpels im Kaiser-Ornat publizierte: die ganze Empörung richtete sich gegen den, der da publizierte, den Hochverräter, nicht gegen den andern, der sie geschrieben hatte.
Deutschland ist ein Volk von 60 Millionen. Das Getümmel der Spekulanten, Soldschreiber und Talmudisten, das gewohnheitsmäßig die Zeitungsblätter erfüllt, ist nicht Deutschland, das ist nur ein Abhub Deutschlands, der stärkere Ellenbogen, der sich den Platz an der Futterkrippe (den Platz an der Sonne) erobert hat. Die Ausnahmen, die es gibt, — es sind wenige — werden sich nicht getroffen fühlen. Das Deutschland derer, die heute hungern, zerfallen, in den Gefängnissen und auf der Straße liegen; das Deutschland derer, die millionenfach in den Arbeitskasernen die trostlose Aufgabe haben, eine im voraus schale und freudlose Zukunft zu bauen; das mit Entkräftung, Zerrüttung und Trauer geschlagene Land derer, die heute in Wahrheit büßen und leiden für die verantwortungslosen Gesellen, denen der Krieg ein blutiges Aktienunternehmen, ein Tummelplatz ihres Indianerspiels war -: dieses Deutschland, das im November 1918 sich einen Augenblick rühren durfte, so wie ein Kranker sich rührt, der sein Fieber verliert, — dieses Deutschland liegt heute wieder am Boden. Dieses Deutschland hat man so kleinlaut gemacht und in die Gossen gejagt mittels Zeitungslügen, Maschinengewehren und Flammenwerfern, daß es nicht einmal stammeln mehr mag, geschweige denn sprechen.
Aber es existiert. Es hat kein Interesse, diese Art Führer zu schützen. Ihm helfe man auf. Hinweg mit den Schandoffizieren, die nur seine Peiniger sind. Ein seit Jahrhunderten malträtiertes Volk, in dem Brutalität und Verhetzung das Selbstgefühl langsam ertötet haben, es spricht heute nicht. Es hat seine Sprache verloren. Das ist Deutschland nicht, was da tobt, was da mit Stinkbomben, Stuhlbeinen und Feuerwerkskörpern Versammlungen sprengt, die den Schuldigen mißliebig sind. Das ist Deutschland nicht, das ist nur sein Pöbel.
Man überschätze nicht den papierenen Lärm. Das »Täusche«-Volk, »Tiutsche«-Volk, wie Nietzsche die leitenden Klassen nannte: die Welt hat es kennengelernt. Dies offizielle Deutschland ist einig. Es war einig auch 1914, auch als der Unterseekrieg begonnen wurde. Das »offizielle« Deutschland ist immer einig, wenn es gegen Menschlichkeit, Freiheit, Moral und Gewissen geht. Und das ist es: das Auslieferungsbegehren der Alliierten richtet den deutschen Freiheits- und Heldenbegriff. Freiheit ist nicht Willkür. Willkür aber ist Versklavung, Versklavung der andern nämlich.
Man lasse sich nicht blauen Dunst vormachen. Die wilhelminische Clique, die heute die Aufregung künstlich peitscht, sie ist ja so feige! Warum stellten sie sich nicht längst in Versailles zur Verfügung, wenn sie das gute Gewissen haben? Warum flohen sie 1918, als das wirkliche deutsche Volk zu erwachen drohte? So werden sie wieder fliehen, 1920, wenn es ernst wird. Sie sind ja in Deutschland selbst schon gerichtet, dreiste Gespenster, deren Bankrott jeder kennt und sie selbst am besten. Sie suchen sich nur noch verzweifelt zu halten. Im Grunde sind sie so jämmerlich. Sie hätten den »Weltkrieg« nie gemacht, ohne den Glauben an ihre numerische und materielle Überlegenheit. Die tapfer und echt waren, die Idealisten und reinen Toren: die liegen in Flandern, in Frankreich, in Polen, in Rußland. Die Hefe ist übrig geblieben. Man darf sie nicht wieder Fuß fassen lassen. Sie brachten die Soldateska verwildert zurück. Sie würden in kurzer Zeit wieder Heere aufstellen.
Man fürchte keinen Zusammenbruch Deutschlands. »Dies Volk kann nicht untergehen«, sagte vor Jahren Wilhelm von Amerongen. Es ist so. Es ist eine kompakte Masse. Ein Händlervolk hinter den Helden, viel zu geschickt und gerissen, um nicht mit den Helden auch aufzuräumen, wenn es nicht anders geduldet wird. Einer hält sich am andern fest. Sie passen sich an. Hier geht man nicht unter, hier hat man stets noch Reserven.
Man hebe den Abschaum weg. Man sei jetzt nicht zimperlich. Ein Volk, das 900 Verbrecher beherbergt und schützt, auf die eine ganze zivilisierte Welt mit dem Finger zeigt, ein solches Volk macht es schwer, Patriot zu sein. Deutsche Gerichte würden niemals den deutschen Heldenbegriff verurteilen können. Um diesen Heldenbegriff aber handelt es sich. Ihn gilt es zu zerstören. Gleichgültig ist die Methode. Man gebe jedoch dem Volke die Dokumente. Damit es sehe, worum es sich handelt. Das deutsche Volk ist ja unsagbar unwissend, trotzdem es lesen und schreiben kann. Wie lange, allzu lang, hat man ihm, zu seinem Unglück, gerade das wichtigste Wissen vorenthalten. Die heutige deutsche Literatur ist nahezu völlig nur ein Versuch, dem Volke die Wahrheit fernzuhalten. Das alles ist nur Berlin, die Regierung.
Man nehme die Delinquenten von diesem Volke, aber man vergesse nicht, dem Volke großzügig zu sagen, warum sie Verbrecher und keine Helden sind. Man missioniere dies Volk wie zu Bonifazius Zeiten. Man zerstöre unbarmherzig seine Illusionen und höre nicht auf das Geheul einiger Dutzend Schreiber der Schwerindustrie. Preußen hat Deutschland das Rückgrat gebrochen. Man breche Preußen das Rückgrat, zerschlage dieses verwegene Banner, und man wird langsam, sehr langsam, die deutsche Rechtlichkeit wieder erstehen sehen, von der nichts zu fürchten und manches zu hoffen ist.
Dies Deutschland, das inoffizielle Deutschland, ist unbekannt wie ein Schattenreich. Seine Menschen, Arbeiter, Kleinbürger, Bauern, seine Masse ist rührend bescheiden, naiv und mißleitet. Nur dieser Boden ermöglichte 900 Übermenschen wie diejenigen, deren Namen die Liste enthält. Man kennt nur das offizielle Deutschland, das laute, das kläglich verpreußte Deutschland, das Deutschland der Lüge, Gewalt und der Ausbeutung. Man fürchte es nicht. Es ist nichts dahinter. Es ist auch, trotz allem, zerbrochen. Keiner der Herren Volksverder-ber, die jeden dieser Sätze in seiner Wahrheit kennen, und vor ihrem Gewissen unterschreiben müßten, wagte sich selbst zu stellen, sich selbst zu richten.