Jaurès über die französische Armee
(12.11.1914)
1913 ist bei Diederichs in Jena ein Buch erschienen, das damals nur wenig Beachtung fand, das ohne Zweifel aber in einiger Zeit eine erneute Aktualität gewinnen wird. Jaurès' Buch »Die neue Armee«, von dem ich spreche, ist eine Vorahnung der Dinge, die da kommen sollten; eine nachträgliche Erklärung der ganzen theoretischen Situation dieses Krieges; eine vorweggenommene Kritik bis in die vorausgesehenen Einzelheiten der Strategie und der Taktik hinein. Frankreichs Wohl und Wehe, das ist das Thema. Die neue Armee, die er meint, das ist nicht nur das Heer der Rekruten und Offiziere. Das ist die neue Armee der Humanität, der Weltbürger, des Proletariats, der Vernunft und der Vaterlandsliebe. Frankreich im Mittelpunkt. Die Sorge um Frankreichs Verlust das Signum. Eine rührende Sorge spricht hier das Wort von der großen Gefahr eines Volkes, auf dessen Geschick der Autor die Zukunft der Menschheit basiert. Es handelt sich nicht um Enthüllungen, nicht um einen vernachlässigten Artilleriepark, um eine verwahrloste Bereitschaft. Es handelt sich um Reorganisation. Reorganisation an Haupt und Gliedern. Man hat den Autor gleich in den ersten Tagen der Mobilmachung beseitigt. Im Trubel der Kriegserklärungen verschwand er, fast lautlos. Er war im Wege. Er besaß Macht. Er hatte Gewalt über die Massen. Man knallte ihn weg, wie man in Sarajewo den Fürsten abschoß: als letztes Hindernis. Dann schlug man los. Schickele hat ihn geschildert: »Ein Mann spricht zum Volke: Jaurès. Balzac und Victor Hugo waren von diesem Schlage. Ein Mann, der eine Umgebung von Deputierten, Studenten, Arbeitern, Journalisten mit seiner Aktivität zu betäuben drohte. Ein Mammuth der Gedankenverbindung. Brückenschläger aus dem Speziellsten ins Allgemeinste; ungeheure Maschine geistiger Konzentration und Verdauung. Aus einem sehr gallischen Geschlecht, dem Rabelais ein vorzeitiges Denkmal gesetzt hat.«
So befaßt sich auch das vorliegende Buch Jaurès mit der französischen Armee. An dem Punkte, wo Organisation, Strategie, ja die Taktik sich mit dem ganzen Komplex der moralisch-politischen Situation des Volkes, seiner Tradition und Geschichte verbinden, fesseln sie ihn. Ein Buch von einer übertriebenen Fülle des Materials, blendender Perspektive, von lachender Klarheit und Objektivität. Jaurès hat die Souveränität der Tatsachen. Er fußt auf den großen historischen Katastrophen, die für ihn die Originalität Frankreichs ein für allemal festgelegt haben, und deren Verkennung zum Untergang führen muß. Er hat die Balzacsche Dimension im Gestalten. Man fühlt: Ein Mann, der gewohnt ist, sich mit den Massen zu beschäftigen, mit den Massen zu denken, zu fühlen, zu operieren.
Vom Proletariat geht er aus und vom Stande der europäischen Friedensaktion. Der Weltfriede: das ist sein Absolutismus. Die Internationale des Proletariats, gestützt auf die nationale Verteidigung, soll ihn schaffen, erhalten, verbürgen, selbst um den Preis einer Revolution. Für ihn gibt es nur eine einzige Möglichkeit des nationalen Krieges, »daß nämlich ein Volk, welches den Frieden will und dem jeder Gedanke an Angriff und Raub fremd ist, durch die Beute- und Abenteuerlust fremder Regierungen überfallen wird, die auf Riesenplünderung ausgehen oder auf die gewaltsame Ableitung innerer Schwierigkeiten; oder auch, wenn ein Volk, das daheim, ohne Herausforderung und ohne bewaffneten Bekehrungseifer, eine große soziale Reform durchgeführt hat, von oligarchischen Mächten bedroht und angegriffen wird, welche die ansteckende Wirkung des Beispiels fürchten und die revolutionäre Flamme, damit sie nicht die Welt in Brand setze, an ihrem Herd ersticken wollen.« Der Kampf für diese letztere »große soziale Reform« verbürgt heute allein ein ausreichendes Ideal und den Sieg. Bewaffnung bis an die Zähne zwecks Wahrung der Friedensverheißung wider die Gruppeninteressen der Chauvinisten, des Kapitalismus, der Dynastien. Frankreich scheint ihm erwählt zu sein. Hier ist die Tradition. Hier war die Initiative zur Zeit der Revolution. Er erinnert an Carnot und Dubois-Crancé und deren Armeeentwürfe für die Miliz vom August 1792 und 1793. Er erinnert an die Ecole de Mars und an den stolzen Satz, »daß eine Klasse von Bürgern nicht einmal das Recht habe, sich das ausschließliche Recht der Rettung Frankreichs anzumaßen«. Erinnert an die Tage von Valmy und Jemappes, als die Linientruppen in Nationalgarde verwandelt wurden, als die Freiwilligen für die Idee der Gleichheit und Freiheit ihre Leiber im Kugelsturme zerfetzen ließen. Erinnert an Robespierres tragische Weltfriedenssehnsucht als an das Vermächtnis; an die Desaix, Hoche, Kleber, Humanisten der Kriegsführung für ein weltbeglückendes Ideal. Die Republik von heute krankt an bürokratischer Arroganz. Die Armee ist irregeleitet und ohne Besinnung. Die Niederlage von 1870 hat sie einer verblendeten Napoleonomanie in die Arme geworfen und läßt sie die Methode des Siegers: Kasernenheer, Draufgehen, Offensive wie einen Fetisch anbeten. Verwirrung herrscht im System, in der Organisation. Der Fluch ist ein deplazierter, nur auf Revanche bedachter verletzter Stolz. Statt in der Miliz, in der nationalen Verteidigung unüberwindliche Kraft zu finden, läßt man sich leiten vom Bluff napoleonischer Großartigkeit, die doch nur aus dem Schwunge der Revolution heraus und solange das Ideal vorhielt, eine Welt zermalmte; läßt sich berauschen von Allianzen, von scheinbarer Gunst der Verhältnisse, stellt ein Kasernenheer an die Front, das den Angriff erlaubt, und ist so gezwungen, mißtrauisch den Willen des Volkes zu zensieren und die Kraft der Reserven hinter die Front zu verweisen. Die Furcht vor dem Streik der Nation, die gleichzeitige Vergötterung der Aggressive (für welches Ideal?), das Pendeln zwischen der Demokratie, die man braucht, und dem Kastenheer: das alles bringt ein System der Zwiespältigkeit mit sich, ist eine Ursache der Sterilität in der Theorie, eine Zwickmühle, ein Irrsinn. In unheilvoller Weise sieht Jaurès den Himmel von Kriegsgewittern umlagert. (Es scheint, daß in Frankreich sensiblere Nerven die Depression anzeigten.) Er läßt die Chancen und Situation der Kulturvölker Revue passieren. England: »Entweder wird England der wunderbaren Friedensverkündigung seiner Sozialisten, seiner Arbeiterpartei, der Besten und Mutigsten seiner Radiken Folge leisten und so auf ganz Europa und die ganze Welt im Sinne einer friedlichen Politik entscheidenden Einfluß nehmen: dann wird es durch ein ausgedehntes politisches und soziales Entgegenkommen die Aufstände verhindern, von denen es in Ägypten und Indien bedroht ist; es wird selbst im Haag die Unterdrückung jenes Beuterechts annehmen, ja sogar beantragen, welches aufrecht zu erhalten es bisher den großen Fehler begangen hat. Oder aber: England wird sich dieser vornehmen und großartigen Bewegung verschließen, dieser Politik hoher Weisheit und eines fruchtbaren Idealismus, dann wird es nicht allen schrecklichen Vermutungen, die in seinem unruhigen Geiste die dunkle Zukunft hervorbringt, die Stirn bieten: dem nationalen und religiösen Aufstand Ägyptens und Indiens und dem gewaltigen Konflikt mit Deutschland, dessen Kräfte zur See jeden Tag wachsen und so die englischen Küsten bedrohen.« Deutschland: »Das kaiserliche und militaristische Deutschland ist nur konsequent, wenn es sein Vertrauen und den Schwerpunkt seiner militärischen Macht immer mehr in die aktive Kasernenarmee verlegt, wenn es bestrebt ist, bei den ersten und seiner Ansicht nach entscheidenden Kriegsereignissen die Rolle der Reserven, also die der Nation immer mehr einzuschränken. Ich erlaube mir indes zu behaupten, daß das militaristische Deutschland ein derartiges Spiel nicht wagen würde. Es gibt zwei Deutschland, das nationale und begeisterte Deutschland von 1812 und 1813, und das hierarchische und feudale Deutschland von heute. Wenn Frankreich, berauscht durch Allianzen und die scheinbare Gunst der Ereignisse, von seiner Friedenspolitik sich abwendete, offensiv und aggressiv vorginge und seine fast zur einzigen Armee gewordene aktive Armee auf Deutschland würfe, dann könnte es leicht auch zu einer furchtbaren Vertauschung der Rollen kommen; es könnte sein, daß das bedrohte Deutschland durch diese Erschütterung die nationalen Kräfte von 1813 wiederfände und uns von neuem die anfänglich defensive, in der Folge offensive Macht der Reserven lehrte.« Er kommt zu dem Resultat, zu dem ihn sein Glaube an die Menschlichkeit seines Zeitalters verleitet: »Der wachsende Widerwille einer großen Anzahl von Geistern aller Nationen gegen gewaltsame Lösungen; der täglich klarer und kraftvoller werdende Willen der Proletarier aller Länder, die internationalen Konflikte zu vermeiden und zu verhindern: all dies würde es unmöglich machen, daß ein Krieg dieser Art, der plötzlich zwischen den Citys von London und Hamburg ausbräche, ein wahrhaft nationaler Krieg werde. Er könnte nur das verderbliche Unterfangen eines verblendeten Absolutismus sein. Die Kriege dieser Art würden weit davon entfernt, national zu sein, jede einzelne Nation in Beutestücke zerreißen und die Kräfte der Revolution entfesseln.«
Was also muß geschehen? Man muß zur Vernunft kommen. Frankreich muß zur Vernunft kommen, sich an die Spitze stellen. Die Generäle, die Führer müssen ihr Herz öffnen den Forderungen der Zeit. Eine umfassende Reorganisation der Armee in Verbindung mit einer großartigen Aktion der sozialen Gerechtigkeit muß eingeleitet werden. Das Volk muß sprechen, die Armee sich bescheiden und ihr Prestige in einer verhaltenen Mächtigkeit suchen. Als Friedensheer ist sie unüberwindlich und Träger, Protektor der pazifistischen Idee, wert ihrer größten Vergangenheit. Sie muß ihre Eitelkeit abtun und logisch werden aus ihrem nationalen Charakter heraus, aus Klugheit und um der geistigen Herrschaft willen. Das Volk kann sie retten. Man weise es nicht zurück. Man gründe Rekrutenschulen. Man werfe die Kasernen um. Man füge eine Militärfakultät den Universitäten an, verfolge für die Offiziere das Wahlsystem, das die großen Generäle der Revolution hervorbrachte. Man bete zum Humanitätsideal, statt zum Beispiele des in ganz anderen Bedingungen ruhenden Militarismus Deutschlands; mache sich frei von der allein seligmachenden Methode der Sieger von Metz und Sedan.
Es ist nicht die Zeit, auf die Vorschläge, die Jaurès macht, des näheren einzugehen. Sie sind überholt vom Gang der Ereignisse. Seine Voraussage ist eingetroffen: Deutschland hat sich erhoben. Es führt den Krieg nationaler Begeisterung. Frankreich kämpft — für seine Politik.