Von der Verantwortung


Wenn ein deutscher Jude in einem Lande, wo seine Stammesgenossen noch heute in einem moralischen Ghetto leben, einen Aufruf zur Freiheit nicht gegen den feudalen Antisemitismus, sondern gegen die »Not«, gegen das »Dogma des Sozialismus«, gegen den »Klassenkampf«, gegen die »Luxusindustrie«, gegen die »Mechanisierung« und die »plutokratische Oligarchie« für das Feudalprinzip richtet, — was soll man von seinem Selbstbewußtsein und Freiheitsgefühl, was von seiner Sachlichkeit halten? Auch heute noch kann ein Jude in Deutschland weder aktiver Offizier, noch Professor, weder Korpsstudent, Bürgermeister noch Diplomat werden. Im Lande der Chamberlain und Treitschke bleibt Ballin, der Direktor der Hamburg-Amerika-Linie, bleiben Helfferich, Dernburg und auch Herr Rathenau des Kaisers »liebe Juden«, deren Dienste er dankend quittiert, solange er sie braucht, denen er aber auf der Parade jeden christlichen Trommler vorzieht. Wenn also in solchem Lande ein Sproß mosaischen Blutes einen »Aufruf zur Freiheit« schreibt und in solchem Buche mit keinem Wort die jüdische Frage erwähnt, gleichzeitig aber seine Feder von »Verantwortung« triefen läßt — hat man dann nicht das Recht, ihm jenes primitivste Verantwortungsgefühl, nämlich seiner unterdrückten Rasse gegenüber, abzusprechen? Ist seine ganze moralische Phraseologie (Seele, Glaube, Transzendenz, Gott, Erlösung usw.) mehr als ein Quark? Wird sein Werk mehr sein als die hassende, hoffende, fürchtende Elaboration eines ehrgeizigen Gehirns, das auf den Botschafterposten in London spekuliert und darüber zum Renegaten wird an seinen deportierten polnischen Brüdern? In der Tat weiß Herr Rathenau zur Lösung der Judenfrage im deutschen Reiche nicht mehr zu sagen, als daß er in bündiger Korrespondenz mit einem Herrn von Trützschler-Falkenstein, die er als Broschüre »Streitschrift vom Glauben« betitelt, die Israeliten mit der »intelligiblen Freiheit« vertröstet, statt ihnen zur politischen zu verhelfen. Oh, diese intelligible Freiheit, die keinen Groschen wert ist, wenn gleichzeitig dabei geprügelt wird! Und doch war sie die Ausrede aller deutschen Reformatoren, von Luther über Kant und Marx bis zu Herrn Rathenau. In einer Zeit, in der die Judenfrage unter dem Zeichen des Zionismus und des befreiten Jerusalem einer endlichen Lösung entgegensieht, katzbuckelt ein Jude hier vor der preußischen Feudalität!


 © textlog.de 2004 • 24.11.2024 00:42:09 •
Seite zuletzt aktualisiert: 02.05.2008 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright   Theater, Kunst und Philosophie  Geschichte und Politik