Die Revolution und der Friede


(31.5. 1919)

 

Die letzte Enttäuschung, die Deutschland der Welt bereitete, ist seine Revolution. Es ist kein Zweifel, daß der Versailler Friedensentwurf das Produkt dieser Enttäuschung ist; kein Zweifel, daß der Friede anders hätte ausfallen können, wenn die Ereignisse seit November 1918 einer modernen europäischen Gesinnung in Deutschland zum Durchbruch verholten hätten, populär und stark genug, um die Abrechnung mit dem alten System zu vollziehen und eine Gewähr zu bieten für die künftige enge Zusammenarbeit mit der übrigen Welt. Leider, eine solche Gesinnung kam nicht auf. Vereinzelte Persönlichkeiten suchten vergebens, Elemente einer neuen Partei zu sammeln. Humanismus und Pazifismus waren von jeher in Deutschland zu kränklich und schwach, um irgendwelche Bedeutung im öffentlichen Leben zu gewinnen oder gar die Politik zu bestimmen.

Nie wurde einem Volke die Revolution so mundgerecht gemacht und vorgebetet, wie den Deutschen von gestern und heute. Wer dies Thema aufmerksam studiert, wird bemerken, daß nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern sogar auf neutralem Gebiete alles geschah, um das Mißtrauen gegen diejenigen zu stärken, die auf den Ausbruch des Volksunwissens ihre letzten Hoffnungen setzten. Wenige Deutsche, ohne Partei, ohne Resonanz, ohne größere Hilfsmittel, waren Idealisten genug, zu glauben, der ungeheure Druck der Kriegsjahre werde ihre Landsleute den außerordentlichen Weg der Empörung, Enttäuschung, der beleidigten Selbstachtung finden lassen. Wir verkannten nicht die tiefe Gebundenheit unseres Volkes, seinen Mangel an Temperament, an menschlichem Wissen, an Schwung und an Wahrheitssinn. Aber wir glaubten, maßlose Leiden der Kriegsjahre müßten zu plötzlicher lauter Vernunft, zu soviel Erwachen und Helligkeit führen, daß die Nation in erbittertem Aufstand den Alpdruck ihrer Heroen und Blutsauger abschütteln würde.

Wir täuschten uns. Die Erschöpfung dieses Volkes, seine Verkümmerung zwischen Kaserne und Oberlehrer ist weiter gediehen, als man gemeinhin glaubt. Je länger der Revolutionszustand anhielt, desto deutlicher zeigte sich Kläglichkeit. Den Instinkt für die Quelle und Herkunft alles Verderbens ersetzte die Angst vor der Wahrheit und Aufklärung. War es schon unmöglich, während der Kriegsjahre die wenigen wahren Rebellen in gemeinsamem Ziel zu vereinen, so zersplitterten jetzt die Parteien. Der Marxismus schien eigens erfunden zu sein, um die Schuld nationalen Verbrechens verschwinden zu lassen in der Schuld des »internationalen Kapitals«. Den Spartakisten genügte es keineswegs, innerhalb Deutschlands reinen Tisch zu machen und so der Generälaktion des Proletariats das reaktionärste Bollwerk hinwegzuräumen. Weltrevolution und zwar sofort, lautete die Parole, und doch betrieb man damit nur die eigene Niederlage. Die Germanophilie des Leninismus sekundierte dabei und bestärkte den Dünkel all jener drolligen Spießer, die sich dem angelsächsischen »Geldsack-Ideal« (nämlich der Demokratie) ach so überlegen fühlen. Die Revolution, in ihrem theoretischen Teil mit sträflicher Naivität und erstaunlichem Optimismus vorbereitet, ohne Verabredung, ohne Austausch der spärlichen Führer, tappte verwirrt über der eigenen Falle, und wenn Unzulänglichkeit allerorten der Reaktion den Sieg in die Hände spielte, so waren daran nicht einmal so sehr die einzelnen Führer schuld, als das Versagen der Masse, der Mangel an revolutionärer Schule, an Ernst und an instinktivem Mitgehen des Volkes.

Tatsache bleibt, daß sich in den fünf Monaten von Beginn der Revolution bis heute eine wesentliche Gesinnungsänderung in Deutschland nicht zeigte. Im Gegenteil: zwei Drittel des Volkes sprechen von den Neuerungen der »Umwälzung« mit Worten schlimmster Despektierlichkeit. Niemand ist begeistert, täglich steigt der Haß. Die Mehrheit der neugebackenen Republikaner beneidet in aller Heimlichkeit die Methoden des genialen Hasardeurs Ludendorff. In Versailles versichert Herr Brockdorff-Rantzau die Unschuld Deutschlands, eine Kühnheit, die uns teuer zu stehen kommen wird, bedeutet sie doch die Verteidigung des Kaiserismus und seiner Methoden. Zu Hause aber lenkt der ausgezeichnete, ehrenwerte Mann Friedrich Ebert, lenkt der Ritter mit Tod und Teufel, Herr Philipp Scheidemann, das Volk der Film-Dichter und -Denker, ohne weitere Schwierigkeiten. Man protestiert gegen den »Gewaltfrieden«, so notschweißtrunken, daß sogar deutsche Emigranten ihre patriotischen Bedürfnisse nicht länger zurückhalten können, und da den Angehörigen des 70-Millionenvolkes mitunter ein schlechtes Gewissen eignet, so wird voraussichtlich von der Revolution sogar unter Brüdern nicht lange mehr die Rede sein.

Es ist evident, daß unter solchen Umständen die Feinde Deutschlands ein starkes Gefühl für die Notwendigkeit haben, sich einem Kraftvolke gegenüber physikalisch und materiell zu sichern. Das Fazit dieser Quasi-Revolution zeigt, schreit, brüllt ihnen ja ins Gesicht, daß von einer Erhebung Deutschlands aus dem Kehricht seiner Historie und von seelischen, geistigen, moralischen Garantien nicht könne die Rede sein. Es ist eine Geste übertriebener Rücksichtnahme und Höflichkeit, daß man Deutschland nicht in völlige wirtschaftliche und moralische Regie zu nehmen gedenkt. Es wäre wohl denkbar, daß man Berlin besetzte, weil eine scharfe Kontrolle der deutschen Zentrale, von der alles Unheil kommt, sich nicht mehr umgehen läßt. Vergewaltigung? Man wird Deutschland nach Maßgabe der Klugheit und des allgemeinen Unglücks belasten und schwächen. Man wird Deutschland der Verantwortung für die Sünden derer, die das Verderben brachten, nicht entheben. Und man wird wohl (hernach) darauf sehen, daß Katastrophen und Eingriffe wie diese letzten sich nicht wiederholen. Seien wir aufrichtig: die Verderbnis ist während der Kriegsjahre so sehr gediehen, daß heute eine großzügige selbständige Aktion im erneuernden Sinne überhaupt nicht mehr möglich scheint. Gibt es denn Demokraten oder Unabhängige oder Kommunisten, die für sich allein fähig wären, die verzweifelte Situation eines Volkes zu retten, das auszog, um eine Welt zu beherrschen, und sich nun wiederfindet in einer Revolution, mit der es nichts anzufangen weiß? Kaum eine Einigung aller linksstehenden Elemente würde imstande sein, der überhandnehmenden Willkür und Brutalität noch zu steuern. Wer sagt aber, daß die Linke sich überhaupt einigen will? Preußen geschwächt, die Armee untersagt –: das sind hübsche Geschenke. Seien wir dankbar!


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