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Die Ballade vom Papagei

Couplet macabre

In Wien entkam ein Papagei.
Und als der arme Vogel frei,
rief deutlich er die Worte bald:
»Der wird noch hundert Jahre alt!«

Er rief es früh, er rief es spat,
er rief es durch die ganze Stadt,
er rief es durch den Wienerwald:
»Der wird noch hundert Jahre alt!«

Man fing den klugen Papagei,
doch setzte fort er sein Geschrei.
Er schrie, als wäre er bezahlt:
»Der wird noch hundert Jahre alt!«

Was fällt dem losen Vogel bei?
Und wem gehört der Papagei?
So riet man hin und riet man her,
von wo er denn entflogen wär’.

Da brachte man den Papagei
aufs Fundbureau zur Polizei.
Dort schrie er erst mit aller G’walt:
»Der wird noch hundert Jahre alt!«

Kaum daß er diesen Ruf getan,
sahn sich die Fundbeamten an,
sofort entschied der Kommissär:
»Der Vogel g’hört ins Belvedere!«

Gleich fragt dort an ein Polizist,
ob man nicht so etwas vermißt.
Erfreut sagt man, daß dem so sei,
und es kehrt heim der Papagei.

Mit Ungeduld erwartet ihn
schon längst die Frau Erzherzogin.
Und es versetzt Franz Ferdinand:
»Ich bin vom Warten abgespannt!

Wo warst du denn die ganze Zeit?
Erzähl die letzte Neuigkeit!«
Da ruft er, daß im Schloß es schallt:
»Der wird noch hundert Jahre alt!«

Erzürnt sagt drauf Erzherzog Franz:
»Ja, jetzt erkenne ich dich ganz!«
Und es ergänzte die Sophie:
»Das ist die alte Melodie!«

Der Erzherzog war recht erbost:
»Weißt du mir keinen andern Trost?
Geht das so fort, so werd’ ich halt
noch selber hundert Jahre alt!«

Jedoch dem klugen Papagei
war dieser Standpunkt einerlei.
Er rief- die Wirkung ließ ihn kalt:
»Noch hundert Jahre wirst du alt!«

Er übertrieb. Denn um ein Jahr
war diese Ansicht nicht mehr wahr.
Der Papagei, stumm trauert er
in dem verwaisten Belvedere.

Er schwingt sich auf- was will er tun?
Er ist schon fort — schon in Schönbrunn.
Mit der ihm eignen Konsequenz
fliegt er direkt zur Audienz.

Klar ist’s, daß ihn sein Herz herzog;
denn er beweint den Erzherzog.
Er singt sein Lied, sein Gott erhalt’:
»Der wird noch hundert Jahre alt!«

Und vor ihm steht ein Heldengreis,
der sich nicht mehr zu helfen weiß.
Der Vogel kreischt um die Gestalt:
»Der wird noch hundert Jahre alt!«

»So schrei nur, bis du heiser bist!«
»Ich schrei, solang du Kaiser bist!«
»Was ist denn das für eine Art?
Mir bleibt bekanntlich nichts erspart.

Trotzdem hat es mich sehr gefreut,
ich bin erst fünfundachtzig heut.
Das weitere werden wir noch sehn.
Bisher, das weiß ich, war’s sehr schön.

Du prophezeist mir, hoff ich, gut.
Doch bis dahin brauch’ ich noch Blut.
Denn jetzt bin ich, das ist doch klar,
bin jetzt erst fünfundachtzig Jahr’.

Noch fünfzehn Jahr, du kluges Tier,
leb’ ich fürs blutige Pläsier.
Dann gratulier, hast du noch Lust,
mir erst zum 18. August.«

Da ward dem armen Vogel bang.
Der Weltkrieg dauert ihm zu lang.
Und er verließ den grausen Ort
und sprach nicht mehr das alte Wort.

Die Jahre gingen nach und nach.
Es starb das Tier, von Alter schwach.
Es starb die Welt. Es starb die Zeit.
Es starb das Lied. Es starb das Leid.

Nur einer blieb. Nur einer war.
Nur einer wurde hundert Jahr’.
Und in des Todes Einerlei
lebt fort ein Urgroßpapagei.