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Artbegriff

Wir haben also gesehen, dass das Einzelding oder Individuum eigentlich mit der Sprache noch gar nichts zu tun habe. Das Stückchen Chester auf dem Teller kann der Mensch mit dem Finger besser deuten, es deutlicher machen, als mit den Worten seiner Sprache, und könnte er wie Zola eine Käsesymphonie schreiben. Ich sehe auch nicht ein, inwiefern das Tier ein Einzelding weniger gut wahrnehmen soll als der Mensch; ob der Mensch das Einzelding, dieses Stückchen Chester auf seinem Teller, mit dem Messerchen oder mit Worten faßt oder der Hund es weniger wohlerzogen unmittelbar mit den Zähnen packt, ist einerlei. Einzeldinge und Eigennamen sind etwas vor der Sprache.

Was der Kellner seinem Gast gebracht hat, das ist ein Einzelding, auch wenn er dabei z. B. zufällig gesagt hat: "Ein Chester." Dasselbe Wort war aber ein Artbegriff, als der Kellner durch das Schiebefenster in die Küche hineinrief: "Einmal Chester!" So kann in der entwickelten Sprache jeder Eigenname zum Artbegriff werden; ich kann sagen: "Die Goethe sind selten, die Schmidt sind häufig." Aber diese Bemerkung, ebenso wie der Hinweis, wie aus dem Eigennamen der Grafschaft Cheshire ein Artbegriff von Käse wurde, würde mich hier von meiner Aufgabe ablenken.

Ich will hier zeigen, dass die Begriffe oder Worte — wie sie aus anderen Gründen den Einzeldingen gegenüber im Kachteil sind im Verhältnis zur Anschauung — auch für Gruppen ähnlicher Dinge, für Arten, also für das, was sie eigentlich bezeichnen wollen, nur unbestimmte Erinnerungen geben. Und ich will nebenbei zeigen, dass Begriffe oder Worte noch ganz und gar in den Bereich der Psychologie, das heißt für mich der Metaphysiologie, fallen und für die sogenannte Logik nur Gegenstände einer geistreichen Spielerei sind.

Gerade mit dem Begriff "Chester" würde sich die schulmäßige Begriffslehre ordentlich abquälen müssen, besonders in unserem Falle. Der Gast, der das unverstandene Fremdwort auf der Speisenkarte gefunden und aus der Überschrift der Rubrik die unklare Vermutung geschöpft hat, es werde wohl eine Unterart von Käse bezeichnen, dieser logisch denkende Gast hat den Begriff nicht — wie die Schule lehrt — von Einzelvorstellungen abstrahiert, sondern hat zuerst das Wort gelernt, dann erst durch das Stückchen Käse eine neue Vorstellung dazu gebildet; eine gewisse Farbe und Struktur, ein gewisser Geschmack und Geruch heißt ihm von da ab "Chester", wenn er den neuen Begriff fleißig einübt; aber auch dann bleiben die Vorstellungen unklar, und wenn er sich nicht zum Fachmann ausbildet, hier zum Feinschmecker also, wird er den Chester von verwandten Käsen nicht unterscheiden können. In ähnlicher Weise hat bei Beginn seiner Laufbahn auch der Kellner den Begriff Chester erworben. Und in ähnlicher Weise haben wir alle die Hauptmasse unserer Begriffe oder unseres Sprachschatzes von Eltern und Lehrern zuerst gelernt und uns erst nachher mehr oder weniger anschaulich gemacht. Ich lasse es dahingestellt, ob das Kind nicht alle seine Worte, auch die Bezeichnungen der alltäglichsten und anschaulichsten Dinge (wie z. B. Milch, Hund, Baum) in ähnlicher Weise lernen muß. Jedenfalls ist es ja — wie gesagt — falsch, wenn das Festsetzen von Begriffen in unserem Gehirn allgemein auf eine Abstraktion zurückgeführt wird.

Denn selbst der höhere Artbegriff "Käse" ist in unserem Gast nicht so entstanden, dass er zuerst Schweizer, Limburger, Holländer usw. als Unterbegriffe kennen gelernt und dann eines Tages die philosophische Erleuchtung gehabt hat, diese seine "Begriffe" hätten neben gewissen Unterschieden auch gemeinsame Merkmale und diese müßten durch ein neues Wort, den höheren Artbegriff, besonders gemerkt werden. Umgekehrt. Mein Gast hat vielleicht als Kind die Worte "Olmützer Quargl" und "Käse" als Synonyme gebraucht, hat dann erfahren, dass über dem Berg auch Leute wohnen, die ähnliches Zeug essen, das sie Käse nennen, und so ist er in seiner philosophischen Begriffsbildung fortgeschritten; und so ist die Menschheit in ihrer Erkenntnis fortgeschritten. Es ist; einer der folgenschwersten Fehler der Schullogik, dass sie unsere Begriffe oder Worte durch Abstraktion entstanden sein läßt. Das paßt freilich ganz gut auf die liebsten Begriffe der Schullogik, wie: Substanz, Sein, Denken, Wollen usw. Aber ich habe den Verdacht, dass sämtliche durch Abstraktion entstandenen Begriffe künstlich, mythologisch, unbrauchbar sind. Und ich werde in dieser subjektiven Überzeugung nur bestärkt durch die lachende Tatsache, dass solche abstrahierte, künstliche Begriffe häufig hübsch klar und distinkt sind, sauberes Spielzeug für den Logiker, dass die natürlichen (zuerst gelernten und dann durch Anwendung eingeübten) Begriffe oder Werte immer unbestimmt, schwebend sind, eine Verzweiflung für den Forscher.

Die große Arbeit der Begriffsbildung ist mit logischen Spielereien nicht zu fassen. Schon Aristoteles (Analyt. post. II. 19) hat doch wenigstens nicht ganz übersehen, dass das Gedächtnis diese Arbeit verrichtet. Die landläufige Logik kennt das Gedächtnis gar nicht. Wir aber sollten endlich, wissen, dass alle Geheimnisse des Denkens gelöst wären, wenn wir das Geheimnis unseres Gedächtnisses und dazu das unserer Aufmerksamkeit erfahren hätten.

Wir sehen oft, dass die Sprache bei all ihrer Plumpheit es doch verraten kann, wenn man ihr Zwang antun will. So läßt sie sich's auch nicht ohne Widerstand gefallen, dass man sie sagen läßt, die allgemeine Vorstellung oder der Begriff entstehen durch Abstraktion, durch Abziehung. Wir brauchen das Fremdwort Abstraktion (das wieder eine schlechte Übersetzung aus dem Griechischen ist) nur ins Deutsche zu übersetzen, um zu wissen, dass es eine Metapher für eine unklare geistige Handlung ist. So schlecht ist das Wort gewählt, dass man darüber streitet, was an den Vorstellungen eigentlich das Objekt des Abstrahierens sei. Vor Kant sagte man, man abstrahiere d i e gemeinsamen Merkmale der Vorstellungen zu einer höheren Vorstellung, dem abstrahierten Begriff, den man dann wieder ganz sprachwidrig vom abstrakten Begriff unterscheiden mußte. Kant fühlte die Unwahrheit und lehrte dafür sagen, man abstrahiere von den ungleichartigen Vorstellungselementen. Damit scheint er mir zugegeben zu haben (und sein Sprachgebrauch ist angenommen worden), dass die Schullogik in der Begriffsbildung nur das Negative beachtet, den Verlust an Anschauung, das Verschwimmen und Ver-schweben, dass sie mit dem Gewinn nichts anzufangen weiß.