"Wesen"
Wir lassen uns über diese Tatsache darum so leicht täuschen. weil wir auch für dieses Nichts verschieden klingende Worte haben, welche historisch mit irgend welchen Menschen- und Weltanschauungen zusammenhängen, so dass wir irgend eine luftige Brücke zur Wirklichkeitswelt immer noch wahrzunehmen glauben. Besonders deutlich ist das im Deutschen aufzuzeigen, weil das gebräuchliche Wort nicht mehr deutlich seine Verwandtschaft mit dem scholastischen Begriff Essentia zu erkennen gibt. Das greuliche Essentia1 ist eine schlechte Übersetzung des griechischen ousia; in romanischen Sprachen ist es auch so heruntergekommen, dass es bald nicht viel mehr als eine Essenz, den Extrakt wohlriechender oder wohlschmeckender Dinge bezeichnete und bis zur ersten Silbe von Eßbouquet verhunzt worden ist. Der deutsche Mystiker Eckart hat wahrscheinlich das Verdienst, das Wort nach der damals üblichen Sprachform in "Wesenheit" übertragen zu haben. Das Zeitwort "wesen" bedeutet heute (übrigens fast nicht mehr üblich, wahrscheinlich nur aus dem Substantiv zurückgeformt) nicht mehr "sein", und so haben wir für den obersten Begriff ein ganz prächtiges Wort, deutsch, alt, unabhängig von anderen Sprachen und so wohlklingend, dass es ganz konkret anmutet. Darum lassen sich über das "Wesen" der Dinge auch noch geschmackvollere Sätze zusammenreden als über ihre Essentia oder ihre Entität. Und weil man die schlichte Wahrheit nun einmal nicht fassen kann, dass der Begriff nichts ist als das Wort und das Wort nichts als ein Erinnerungszeichen für Gruppen ähnlicher Vorstellungen, so faselt man seit zweitausend Jahren von einer Beziehung zwischen den Begriffen und dem Wesen der Dinge. Danach soll der Begriff etwas sein, worin das Wesen der betreffenden Objekte vorgestellt wird (Überweg, Logik 5. Aufl. 147); und wesentlich sollen diejenigen Merkmale der Objekte sein, von denen ihr Bestehen, ihr Wert oder ihre Bedeutung abhängt.
Nun wissen wir, dass unser Denken niemals imstande ist, in das Wesen auch nur eines Sandkorns einzudringen. Wir besitzen keine Begriffe, die zuletzt über die subjektiven Sinneseindrücke hinausgehen; müßten Begriffe also Wesentliche Merkmale bieten, das Bestehen der Objekte erklären, so hätten wir überhaupt keinen Begriff. In das Wesen der Dinge hat ein einziger Metaphysiker einzudringen versucht, Schopenhauer, der in ihnen den Willen zu entdecken glaubte; wir Werden erfahren, Welche ungeheuerliche Tautologie er sagte, als er das Wesen mit dem Willen und den Willen mit dem Wesen erklärte. (Man vergleiche mein "Wörterbuch der Philosophie" II. 344 ff.)
Ist aber das Wesen der Objekte in ihrem Werte enthalten, dann ist dieses Wesen etwas Relatives, wie jeder Wert, dann ist es von unserem menschlichen Interesse abhängig, dann ist es dasselbe, was die Bedeutung der Objekte ausmacht, die Bedeutung für uns Menschen, dann will die Schullogik auch nichts Anderes behaupten als ich: dass nämlich die Worte oder Begriffe Zeichen sind für diejenigen Sinneseindrücke, die uns an den Dingen interessieren, die wir uns darum merken. Dieses Interesse kann ein sehr nahes und gemeines sein, wie das des Bauern an seinem Feld, und seine Worte oder Begriffe Werden sich danach bilden; dieses Interesse kann ein fernes und edles sein, wie das des Forschers, z. B. Linnés, der die Pflanzen klassifizieren will: immer haben die Begriffe nur relative Bedeutung, immer sind sie nur eine Abkürzung der oberflächlichen Sinneseindrücke, die wir uns gemerkt haben. Platt und kindisch hat einst Platon in den Begriffen die Ursachen der wirklichen Dinge zu finden geglaubt, hat diese zeugenden Ursachen die Ideen genannt und dafür großen Zulauf gehabt. Aristoteles war klug und prosaisch genug, das Mythologische in diesen derben und zeugungsfrohen Platonischen Ideen zu durchschauen (Metaph. II. 2), aber als er ein abstraktes Wort (ousia) dafür setzte und so für die Essen-tien und Wesenheiten den Anhieb tat, nahm er den Platonischen Gottheiten nur ihre Schönheit, nicht ihre Dummheit. Aristoteles hat sich redlich abgemüht, sich und seinen Schülern den Begriff "Wesen" klar zu machen; er martert seine schöne Muttersprache bei dieser Arbeit mitunter (z. B. to ti en einai, mein Übersetzungsversuch in meinem "Wörterbuch der Philosophie" I. 324) ebenso wie Hegel unser liebes Deutsch; und wenn die Sprache überhaupt unter der Folter mehr aussagen könnte, als wir in sie hineingelegt haben, diese beiden Henkersknechte ihrer Muttersprachen hätten ihr etwas Neues abgezwungen.
So kann ich wohl sagen, dass die Erklärung der Begriffe durch das Wesen der Dinge eine der schlimmsten Tautologien in sich schließt. Der Begriff bezeichnet Dinge, die ihrem Wesen nach zusammengehören; und dass Dinge zusammengehören, erkennen wir daran, dass sie durch denselben Begriff oder dasselbe Wort zusammengefaßt Werden. Wir können es in der Geschichte der Zoologie verfolgen, wie das Wesentliche der Klassen bald so, bald so verstanden wird; auch heute noch hört man die sinnlosen Fragen, ob diese oder jene niedersten Organismen zu den Tieren oder zu den Pflanzen "gehören", das heißt doch Wohl: ihrem Wesen nach gehören. In Wirklichkeit ist es eine Wortfrage; es hängt (ich will nicht sagen vom Belieben) von der Begriffsbildung des Klassifikators ab, ob er nachher so oder so entscheiden muß, oder gar ein drittes Reich hinstellt, das heißt ein drittes Reich begrifflich oder sprachlich abgrenzt.
Wenn man nun bedenkt, dass unsere Begriffe nur relative, subjektive, ungefähre Erinnerungszeichen für relativ beachtenswerte Sinneseindrücke sind, wenn wir ferner bedenken, dass die Einteilungsworte des Weltkatalogs (z. B. Reich, Kreis, Klasse, Ordnung, Familie, Gattung, Art, Abart, Varietät) eben auch nur solche Begriffe sind, die wir so lange gebrauchen, wie sie uns das Wesentliche zu bezeichnen scheinen, so werden wir zugeben müssen, dass auch der Streit um den Artbegriff, um den Darwinismus, eben nur ein Begriffsstreit, das heißt ein Wortstreit ist. Dass es neben dem künstlichen System, diesem Notbehelf, ein natürliches System geben müsse, hat schon Linné geglaubt, nur dass "System" und "Natur" disparate Begriffe sind; und sein künstliches System der Botanik ist doch wenigstens schon auf die Zeugungswerkzeuge gegründet. Dass die "guten" Arten von der Zeugungsfähigkeit, also von der Abstammung abhängen, hat man ebenfalls lange vor Darwin gewußt. Wenn also der Darwinismus ebenso vollständig und gewiß wäre, wie er lückenhaft und durchaus hypothetisch ist, so würde auch er dennoch keine Begriffspyramide bieten, nicht die "wesentlichen Merkmale" durch festumschriebene Begriffe ausdrücken können. Das einzige Ergebnis der schönen und kühnen Hypothese Darwins ist die Bestätigung unserer Lehre, dass Begriffe (welche in der Naturgeschichte Arten heißen) oder Worte nebelhaft, schwebend, undefinierbar sind. Und fassen wir selbst Darwin als den bloßen Beobachter, dessen "Gesetze" erst noch von einem Denker einheitlich erklärt werden müssen und dadurch langsam dem Prozesse der Selbstzersetzung verfallen, fassen wir selbst Darwin als den Kepler, der auf seinen Newton wartet, so kann und wird der neuen Weisheit letzter Schluß nur ein neues Wort sein, ein neuer Begriff, der wiedergibt, Was er geborgt bekommen hat, bestenfalls ein bequemer Automat, der eine Banknote hergibt, sobald man den Betrag in Gold vorher hineingeworfen hat. So eine Banknote war die "Gravitation", so eine Note wird vielleicht einst "Entwicklung" heißen.
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- Essentia kommt allerdings schon bei den vorchristlichen Römern vor, wird aber noch von Augustinus als ungebräuchlich entschuldigt (De Trinitate VIII).↩