Der erste Händedruck
Paris, 1. Oktober 1924
Der Reichskanzler Marx hat in London einen ausgezeichneten Eindruck hinterlassen. Die Engländer und Franzosen waren angenehm enttäuscht, dass sich einmal nicht jener vierschrötige Typus des preußischen Großgrundbesitzers erhob, auch nicht der trockne und stumpf-korrekte Beamte, dessen Seelenlosigkeit seine Heimat »gute Manieren« nennt – denn als es hieß, der deutsche Reichskanzler habe das Wort, stand ein stiller und bescheidener Mann auf, der sachlich und fest in der Materie, aber angenehm leicht und konziliant im Ton das Seine vorbrachte. Also: der Eindruck war ausgezeichnet.
Nun fehlt es aber nicht an Stimmen, die flüstern, es sei Herrn Herriot doch ein wenig peinlich gewesen, dass grade ein Klerikaler als sein Verhandlungspartner auftrete, einer von den Vatikanleuten, die ein guter französischer Republikaner so sehr verabscheut. Ja, Stresemann, fahren die Stimmen fort, Stresemann – das sei ganz etwas andres. Herriot und Stresemann hätten sich gleich beim ersten Händedruck erkannt.
Herr Gustav Stresemann ist in diesem Jahre Freimaurer geworden, und das ist in Frankreich nicht unbekannt geblieben. Der Vielgeschäftige, der keine industrielle Vereinigung, keine politische Partei, keine Clique und keine Gruppe an sich vorübergehen läßt, in der er Zukunft wittert, hat sich bemüßigt gefühlt, nun auch in Weltanschauung zu machen und eine kleine moralische Rückversicherung mit guten Beziehungen bei den großen preußischen Landeslogen aufzunehmen. Man kann nie wissen – denn dies ist der erste Grundsatz des deutschen Außenministers: »Sei dabei!« Und er ist allemal dabei.
Inzwischen haben die französischen Kardinäle Herrn Herriot eine Art Kriegserklärung zugeschickt: er solle die geistlichen Orden nicht bedrücken, die geistlichen Schulen unangetastet lassen und dem Klerus in Elsaß-Lothringen, der unter Deutschland gute Tage gehabt hat, nicht ans Leder gehen. Ferner solle Frankreich seine Botschaft beim Vatikan nicht, wie beabsichtigt, aufgeben. Frankreich, das die Trennung von Kirche und Staat zwar praktisch nicht völlig durchgeführt hat, aber im großen ganzen doch als ein Land nach einem siegreich durchgeführten Kulturkampf anzusehen ist – Frankreich ist über die Kardinäle hergefallen, und sieht man von den Parteien ab, die die Kirche dazu benutzen, um monarchistische und reaktionäre Pläne zur Ausführung zu bringen, so steht Rom hier einer geschlossenen republikanischen Truppe gegenüber. Auch in der Schulfrage.
Soweit gut. Jetzt aber hat die »Ere nouvelle« in ihrer Ausgabe vom 28. September herausgefunden, dieser etwas unerwartete Angriff der französischen Kardinäle sei eine Art Weltverschwörung des Vatikans; denn »aus sicherer Quelle« wisse das Blatt, daß Mitglieder der deutschen Zentrumspartei den Franzosen unter der Hand mitgeteilt hätten, sie seien bereit, eine franzosenfreundliche Politik in Deutschland zu machen, wenn Frankreich die Botschaft beim Vatikan beibehielte. Was mag das wohl für eine Quelle sein –?
Ich gehe hier nicht nur Enten schießen. Die Ansicht der »Ere nouvelle« hat einen ernsten Hintergrund. Denn es gibt in Frankreich, einem der klassischen Länder der Freimaurerei, genug Leute, für die der Klerikale der unbedingte Feind ist. (Wilhelm Feldmann hat in der »Vossischen Zeitung« erst jüngst treffend darauf hingewiesen.) Wie Frankreich seine Klerikalen beurteilt, müssen wir ihm überlassen. In Deutschland liegt es zur Zeit aber doch anders.
Das Land d'Outre-Rhin gleicht einer in Konkurs gegangenen Firma, die unter Geschäftsaufsicht steht. Diese Geschäftsaufsicht, die darauf achtet, dass der Schuldner nicht wild um sich haut und auch noch die letzten Aktiva verschleudert, ist das deutsche Zentrum, eine der wenigen Parteien, die überhaupt bei uns noch so etwas wie Politik zu machen verstehen. Das Zentrum ist niemals treu republikanisch gewesen, so wenig, wie es treu monarchistisch war – es ist eine Sache für sich, mit ganz besondern Interessen, mit besondern Strömungen, besondern Fundamenten. So bedauerlich diese Tatsache auch sein mag: die Zentrumspartei, und namentlich ihr linker Flügel, ist tatsächlich in den letzten schweren Jahren der ruhende Pol gewesen, das Bleigewicht in einer hohlen Figur, dazu ein Sammelbecken von Köpfen mit ausgeprägt gesundem Menschenverstand und einer gewissen Großzügigkeit, die dabei aber niemals die Realität außer acht ließ. Was der reisende General Ludendorff-Lindström mit feinem politischen Takt einmal herausgepoltert hat: dass die Deutschen sich von den »Römlingen« gängeln ließen, ist schon richtig, aber die Äußerung verkennt eben die unendliche Überlegenheit der Zentrumsleute und die politische Unmündigkeit der Junker und der junkerlichen Industriellen. Ist gegängelt worden? Dann mag doch das Kind allein laufen lernen! Vorläufig krauchts am Boden.
Dabei ist es nicht einmal schlecht geführt worden. Das Zentrum ist seit den Tagen der Friedensresolution durch seine Verbindungen über die Welt immer sehr gut unterrichtet gewesen; was nach Königsberg und Belgard in Pommern niemals gedrungen ist, und wenn es dort hinkam, auch gar nicht verstanden wurde, das wußten die Leute um Marx sehr gut. Und sie verwandten es nicht eben zum Nachteil Deutschlands. (Welchen Preis sie sich hierfür freilich bezahlen ließen – das ist eine andre Frage, und eine Frage der Innenpolitik Deutschlands.)
Frankreich täte also nicht recht daran, einem deutschen Politiker nur deshalb zu mißtrauen, weil er dem Zentrum angehört. Daß Art nicht von Art läßt, dass in manchen Fällen das deutsche Zentrum einem bedrängten französischen Klerus indirekt beispringen würde, das ist nicht ganz falsch. Aber auf der andern Seite – was steht denn da?
Es ist nicht anzunehmen, dass Gustav Stresemann zu den Maurern gegangen ist, um damit in Frankreich Eindruck zu machen. Er ist schlau – aber nicht klug.
Zu befürchten steht nur, dass manche Franzosen geneigt sind, in ihm wegen seiner Zugehörigkeit zur Loge einen guten und trefflichen Mann zu erblicken. Er tut allerdings zur Zeit alles, um diesen Glauben zu zerstören. Er zerschlägt so viel Fensterscheiben wie Wilhelm, sobald er nur den Mund auftut – und er ist ja viel zu sehr gebunden, um jemals eine stramme und klare Politik machen zu können. Er ist nicht zuverlässig.
Sein Freimaurertum aber wäre zuallerletzt geeignet, ihn zu einem guten Republikaner in französischem Sinne zu stempeln. Diese internen Wohltätigkeitsvereinigungen wie Stresemanns Loge Friedrichs des Großen sind ausgesprochen reaktionär. An ihren Rändern soll sie sich mit völkischen Verschwörern von allerlei Graden berühren, denen die Geheimniskrämerei nur allzu recht war. Logen wie die Große nationale Mutterloge zu den drei Weltkugeln in Berlin, die Herrn Stresemanns Loge übergeordnet ist, lehnen außerdem jede Verbindung mit den französischen Freimaurern ab; der »Gedanke der Menschheit« reicht nur bis Saarbrücken – dahinter wohnen offenbar keine Menschen mehr und »Brüder« schon gar nicht. Eine etwas merkwürdige Sorte von Freimaurerei, die in erster Linie dem Staat – und was für einem! – untenan ist und nachher, so zur Verdauung nach einem guten Festmahl, auch der alten Idole gedenkt, die in diesem Kreise längst ihren Sinn verloren haben. Nein, dieser mangelhafte Kirchen- und Synagogen-Ersatz eines Sparkassenvereins ist wirklich keine antiklerikale Gefahr mehr und eine internationale schon längst nicht. Es gehört die ganze Unbildung und Sturheit gewisser Offiziersverbände dazu, um gegen die »Gefahr des Freimaurertums« zu protestieren und ihren Mitgliedern den Eintritt in diese harmlosen und einen ehrwürdigen Namen mißbrauchenden Konventikel zu verbieten. Diese Logen sind längst zu Trampellogen geworden.
Und dem hätte sich Herriot geneigt gezeigt? Wenn das wirklich wahr ist, so wäre das eine Naivität, vor der die Franzosen gar nicht genug zu warnen sind. Die sehr ernsthafte Freimaurerbewegung in Frankreich ist mit der deutschen, wie sie die Landeslogen repräsentieren, überhaupt nicht zu vergleichen. Alle an das Freimaurertum Stresemanns etwa geknüpften Hoffnungen wären, seiner Person und der Sache wegen, völlig unangebracht. Drüben, bei den Franzosen, geistig hochstehende Vereinigungen von Männern, die ihre Gesinnung bei jeder Gelegenheit – vor allem aber in der Politik – in die Tat umsetzen. Als man vor der Marne-Schlacht im Jahre 1914 in Frankreich die Militärdiktatur erwog, wurden die Republikaner ängstlich: wenn nun solch ein Diktator eines Tages Republik Republik sein ließe … ? Der Name eines Offiziers wurde damals nur deshalb überall mit Vertrauen aufgenommen, weil er Maurer war – so fest ist das Vertrauen dieser Kreise in ihre Mitglieder in praktischen Fragen und grade in praktischen Fragen. Hüben, bei den Deutschen, eine lendenlahme Vereinsmeierei mit verblasenen Überbleibseln alter Ideologien, die zu nichts verpflichten, Herrn Stresemann nicht und auch sonst keinen. Die Redensart: »Das sind die richtigen Brüder!« bekommt hier einen ungeahnten Sinn.
Man möge sich auf französischer Seite keine Illusionen machen. Herr Stresemann wird konsequent seine Politik der Inkonsequenz fortsetzen, und Herr Marx ist in erster Linie Politiker, in zweiter ein Klerikaler, und wohl kaum einer, der finstere Pläne zur Abwürgung der Republik in Frankreich wälzt. So einfach ist die Welt nicht.
Gustav Stresemann ist ein alter Umfaller. Seine Taten liegen vor. Sollte er sich noch einmal mit einem Ausländer beim ersten Händedruck verstehen, so muß man ihn mit der Nase, durch die er seine Reden aufzusagen pflegt, auf seine Vergangenheit stoßen und ihm so viel Vertrauen entgegenbringen, wie er verdient. Nicht viel, aber dafür auch nicht lange.
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 09.10.1924, Nr. 41, S. 541.