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Wahlvergleichung

Es ist in letzter Zeit üblich geworden, die Wahlresultate der verschiedenen Länder miteinander zu vergleichen und ihre gegenseitige Beeinflussung zu untersuchen. Das ist ein müßiges Spiel.

Der Wähler wählt in den meisten Fällen nicht das, was man nachträglich in seine Wahl hineinlegt. Er hat einen lokal eng begrenzten Horizont; der Leitartikler, manchmal, einen etwas weitem. Man darf nie vergessen, wie kleinliche, gefühlsmäßige, nur dem Landsmann verständliche Gründe für die Stimmabgabe eines Wählers maßgebend sind. Die Franzosen haben im Mai dieses Jahres keine deutschfreundliche Wahl gehabt; die Politik, die sie, größtenteils, aus rein innenpolitischen Gründen gemacht haben wollten, ergab dann unter anderm auch eine friedlichere Stimmung gegen Deutschland – maßgebend für die Wahl des einzelnen war das nicht. Die Wahlresultate Englands haben tausend innenpolitische Gründe, künstlich geweckte Sentiments der letzten Minute, die nun für ein paar Jahre stabilisiert sind – daraus Sieg oder Niedergang des demokratischen oder des konservativen Weltgedankens zu folgern, ist Unsinn.

Denn eine neue amüsante Spielerei hat begonnen: die Einflüsse darzulegen, die die eine Wahl auf die andre gehabt hat, haben wird, wird haben können. Ach, der Kaufmann des einen Staats hat dieselben Interessen wie der des andern, und im Grunde wollen sie alle dasselbe. Was ist das für ein törichter Unfug, sich und den andern Leuten einzureden, der Wähler sondiere sorgfältig alle Wahlresultate der umliegenden kleinen Dörfer und gebe danach seine Stimme ab. Gewöhnlich denkt sich der Wähler viel, viel weniger, als man denkt, und wenn die Linke des einen Landes die Niederlage der Rechten im andern voll Freude begrüßt, so folgt sie darin einer schönen Überlieferung, die keinen praktischen Wert hat.

Man sollte genug aus den letzten zehn Jahren gelernt haben. Demokratische Regierungen haben sich benommen wie die wilden Tyrannen, und konservative sind mit artiger Milde an ihr Werk gegangen – auch sie getrieben oder geschoben von den Umständen. Den emsigen und ewigen Politikastern aber ist zu sagen, dass die Politik eine viel kleinere Rolle auf der Welt spielt, als die meisten Wichtigmacher unter ihnen wahrhaben wollen. Es gibt Menschen, die nie aus dieser Welt der Ausschußsitzungen, Mehrheitsbeschlüsse, Wahlkreisgeometrien herauskommen und nicht über die Abgeordneten, ihre Reichskanzler und Kommissionen, ihre Kompromisse und Vertagungen hinauszusehen vermögen. Mag sein, dass da in diesen Réunions viele Gesetze angefertigt werden – regiert wird die Welt meist anderswo. Aber es tut so wohl, das wichtig zu nehmen und sich auch so vorzukommen. Man lese politische Leitartikel dieser Sorte, die etwa ein Jahr alt sind – und man hat ein Bild von dem vertanen Quantum Intelligenz, Arbeit, Kombinationsgabe, Zeit. Die Politik ist auch ein Stigma eines Landes – ihr einziges oder gar hervorragendstes ist sie nicht.

Und solche politischen Leitartikel zu schreiben mag ein Beruf sein und eine ansprechende Beschäftigung. Irgendeine tiefere Bedeutung kommt diesem Treiben nicht zu.

Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 25.11.1924, Nr. 48, S. 814.