Windrose
Über die alte Hafeneinfahrt von Marseille spannt sich eine luftige Brücke, der Pont transbordeur, ein stählernes Spinnennetz. Oben auf der Brücke steht ein kleines Restaurant, die Brücke ist hoch, die Preise auch. Oben vor dem Restaurant steht ein Tisch, Auf dem Tisch ist eine Windrose aus Email, es ist eine runde Platte, auf der das ganze große Panorama, das man da hat, abgebildet und wiederholt ist. Da sieht man Hügel und Täler, Kirchen und andere öffentliche Häuser, Küsten, Inseln und das Meer, alles noch einmal. Und am Rand des Windrosenkreises steht jeweils, an jeder Himmelsrichtung, die Stadt, die dort weit hinter den Bergen von Gemenos und den Tälern von Saint-Pons, wie man bei uns zu Hause so schön sagt: zu liegen kommt. Und über das Email gebückt, hoch oben auf der zugigen Brücke, sehe ich wie der liebe Gott über die ganze Welt.
Konstantinopel … Das Auge wandert die Himmelsrichtung entlang, die ein Pfeil ihm angibt. Da, hinter jenen Gäßchen, liegt es. Elektrische in den Straßen; politische Schieber, die gute Geschäfte – merkantile, die schlechte Geschäfte machen, im Harem kein Aas, die Cafés stippevoll bei leeren Tischplatten, Zeitungen, Kinos, Telefone und – bei einem Pascha – ein Wasserklosett. In einer Ecke kratzt jemand gutmütig einen flohbeladenen Hund mit einem Stöckchen, dann erhebt er sich und setzt sich vor seine Wasserpfeife. Sie ist verstopft. Er reinigt sie mit dem Stöckchen. Pera – du Stadt unserer Träume!
Bern. Also da, hinter jener Kirche und dann wohl noch ein kleines Stückchen … Elektrische klingeln in den Straßen, artige Sittsamkeit, Korrektheit, Bravheit, die geborenen Hoteliers der alten Klasse, Natur mit Ei und einige Engländerinnen, die den quick-lunch nehmen, weil es so im Reisehandbuch steht. Kinos, Zeitungen, Telefone und etwas Radio – aber eine gesunde Luft. Im Regierungsgebäude berät gerade Herr Nationalrat Muggli mit Herrn Kaufmann Mögli über einen Volksentscheid zur Einführung des Alkoholverbots in schweizerischen Seemannsheimen … Bern – du gute Schweizerstadt!
London … Nein, zu sehen bist du nicht. Aber da, hinter dem Neuen Hafen, gleich da, wo der kleine dicke, phallusrunde Leuchtturm steht, dahinter wirst du wohl liegen. Elektrische klingeln in den Straßen, ernsthafte Engländer gehen vorbei, mit nicht so übermäßig vergnügten Gesichtern; die das Wort ›Lady‹ wie ›Laidi‹ aussprechen, was nicht gerade von Feinheit zeugt, sind fröhlicher als die andern, denen es besser, aber nicht so gut wie früher, also schlechter geht. Kinos, Zeitungen und Telefone, Nebel und eine emsige Wahlbewegung mit traditioneller Aufgeregtheit. Am Tisch eines Boardinghauses sprechen gerade fünf Damen und ein unglücklicher Mann miteinander. »Ein feiner Tag heute!« – »Haben Sie gestern gutes Frühstück gehabt?« – »Wir hatten ein sehr gutes Frühstück!« – »Der König ist heute nach Windsor gefahren!« So prallen die aufgeregten Leidenschaften aufeinander. Und andere Frauen, die sich langsam vom Kontinent herübergeholt haben, was ihnen so lange gefehlt hat … sie tragen die neue Erotik mit wenig Glück, scheints … Sei gegrüßt –!
Paris! Die Elektrischen klingeln durch die Straßen, die riesigen Autobusse jagen um die Ecken; dass die Sonne untergeht, ist nicht gewiß, dass Gott aber am zweiten Tage das Déjeuner und am dritten das Diner erschaffen hat, das ist ganz bestimmt. Wie unromantisch du bist, du beschwingte Stadt! La Fouchardière schreibt gerade seinen täglichen Artikel, zwei Societärinnen der Comédie Française sind in einen tödlichen Streit geraten, der nie, spätestens aber morgen nachmittag, zu Ende sein wird, ein Zeitungsverkäufer schwingt seine Blätter, eine Hymne singend, die heißt: »Intran – Spoooort!« und die Theaterdirektoren Brüder Isola sind traurig, weil ihnen ein ungetreuer Kassierer die Karriere verdorben hat. Die gestrige Skandalaffäre ist im Verblassen. Nur ein kleiner deutscher Schmock schlachtet sie noch aus, weil er davon lebt, von den faits divers (französisch: Schmonzès), und morgen wird sein kümmerliches Deutsch im heimischen Blatt prangen. »Viel Aufsehen erregt in Paris … « Kein Mensch weiß etwas davon. Und Kinos, Telefone und Zeitungen … Bon soir, les copains –!
So suche ich den ganzen Horizont ab, da oben auf meiner Brücke. Und während vom Mittelländischen Ozean her der Wind in meinen Locken spielt, entdecke ich an einer Stelle der Windrose etwas, einen Namen, zwei kleine Silben, nicht ausgekratzt, wahrhaftig unversehrt, klar und deutlich.
Berlin. Sehnsüchtig wende ich mich ab und zeige ihr eine ganze volle Kehrseite.
Peter Panter
Die Weltbühne, 18.11.1924, Nr. 47, S. 782,
wieder in: Mit 5 PS.