Wat heißt hier Romantik!
Neulich nachts war ich mit einem berliner Kriminalkommissar »auf Tour«. Wir haben uns einige feinere Kaschemmen angesehen – mit allerhand Volk darin. Wenn man solchen Spaziergang unternimmt, muß man sich vorerst alle diese falschen Vorstellungen abstreifen, die sich so leicht breitmachen. Die meisten Schriftsteller, die dergleichen in die Finger bekommen, machen für mein Gefühl den Fehler, die Dinge viel zu romantisch zu sehen, sie sich selbst umzulügen und in das Alltägliche ein Pathos zu legen, das gar nicht drin ist. »Wat heißt hier Romantik –!«
Zuerst waren wir in einer kleinen Likörstube, in der nur Frauen saßen. Alles kannte sich untereinander, und gleich, als wir hereinkamen, zeigte sich der Generalnachteil solcher Unternehmungen; der Beamte war natürlich bekannt, eine leise Welle der Kühle ging durch den Laden, und eine fast unmerkliche Erstarrung war auf einmal in der Luft. Das Natürliche war vorbei. Man hatte uns erkannt. Aha – Beobachter! – Die Gespräche wurden leiser, die Haltung gezwungener. Die Mädchen sahen ganz freundlich aus – die meisten hatten prägnantere Gesichter, als man sie sonst sieht – viele einen ausgesprochen männlichen Typ. Die Frauen an der Theke sehr frech und sehr hübsch. Es ging sehr ruhig zu, unseretwegen. Bekanntlich sind diese Frauen weitaus unruhiger und leidenschaftlicher als etwa Männer oder Männer und Frauen zusammen – soviel blaue Augen und ausgerissene Haare gibt es gar nicht, wie da auf den Bällen umherfliegen. Aber an diesem Abend war das nicht.
Wir waren in einem Lokal, in dem nur Männer saßen. Die spitze Redeweise dieser maßlos überschätzten Klasse klang an das Ohr. Wie immer am interessantesten die älteren Typen – darunter ganz merkwürdige Gesichter, die man nie hier vermutet hätte.
Wir waren in einem Kellerlokal, der stand ganz unter Kokain – (»Koks«, wie das in Berlin heißt). Die Mädchen tanzten und kreischten und logen, dass sich die Balken bogen. Einige Taschendiebe saßen umher, ein paar Zuhälter, aber alles sehr gesittet.
Und dann begann der Beamte zu erzählen. Und was er erzählte, war eigentlich viel interessanter als das, was er an diesem Abend zeigte. Es war ein klobiger Kerl, mit breiten Händen und einem bösen Blick, schweren Lidern, und Augen, die von unten herauf jemand gefährlich mustern konnten. Er hatte schon einige harte Erlebnisse hinter sich. Mit barbarischer Ruhe erzählte er alles: wie er die und die Einbrecher-Kolonne gesprengt habe, wie er die Führer unschädlich gemacht und einen erschossen habe, in der Notwehr. Wie es sich einmal, nachdem ein geplanter Einbruch bei einem Trödler vorher verraten worden war, in dessen Wohnung hatte einschließen lassen – mit ein paar Beamten, und wie sie dann nachts gewartet hatten – auf die Einbrecher. Die kamen. Und dann gab es ein Feuergefecht, bei dem er allein drei Magazine leer geschossen hatte. Fazit: ein verwundeter Beamter, drüben ein Toter, zwei Schwerverwundete, und alle anderen gefaßt. Und mir fällt auf, was ich schon immer wußte: wie zu solch einer Angelegenheit ja viel mehr Mut gehört als zu einem Sturmangriff, wo das Herdengefühl eine so große Rolle spielte. Es ist doch noch ein ander Ding, in einer friedlichen Stadt ohne die Teilnahme einer ganzen Kompanie allein ein solches Ding durchzubeißen. Ja – das hatte er getan. Und er machte gar nicht viel Wesens davon. Wenn er von all diesen Dingen und Menschen sprach, von diesen entführenden Tänzerinnen, kokainisierenden Jünglingen, den Einbrechern, die nur bei Ertappung auf frischer Tat schossen und sonst sich sanft wie die Lämmer abführen ließen, von den jungen Anfängern, die noch nicht genau wissen, was ein Zuchthaus ist, es aber bald kennenlernen – wenn er von alldem sprach, dann war nicht viel von Pathos zu merken. Es war selbstverständlich. Auf beiden Seiten ein Beruf.
Nachher gingen wir in eine solche Kaschemme, wo nur ganz Junge Menschen saßen. Als wir herunterkamen, ertönte ein Zischer, irgend etwas verschwand vom Tisch, und alle saßen völlig unbeschäftigt vor einer leeren Tischplatte. Sie hatten gespielt. Und grinsten jetzt wie ertappte Schüler, weil ihnen der Lehrer nichts beweisen kann. In einer Ecke aß ein breitschultriger Mann sein Abendbrot – der Beamte kannte ihn, der wartete hier auf sein Mädchen, die für ihn auf die Straße ging.
All das war so nüchtern. So meilenfern von jener falschen Bums-Romantik, mit der geschäftige Schreiber diese sehr ernsten Dinge umkleiden. Man soll der Stadt Berlin kein falsches Montmartre andichten. Sie ist hart, objektiv und liegt an der Spree. Auch ihre Nachtseiten sind so. Es ist ein graues Verbrechertum.
Theobald Tiger
Prager Tageblatt, 18.12.1925.