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Die Liste

Im Kriege hatte der Soldat in der einen Hand seine Waffe und in der anderen eine Liste; auf der stand geschrieben:

Laufd. NummerNameDienstgrad
   

Ich glaube, wenn man unserm Volk seine Listen wegnähme, es wüßte überhaupt nicht mehr, was es noch hienieden sollte. Denn ob wir befähigt sind, Kriege zu führen und das Staatsruder zu führen – das steht noch dahin – aber Listen führen – das können wir.

Anderswo gehen die Leute durch den grünen Wald – bei uns geht alles durch die Bücher. Denken Sie mal, was alles bei uns eingetragen wird:

Geburt, Impfung, Amme; Schulgang und Rausschmiß, erste Liebe (grober öffentlicher Unfug, Alimentation usw.) – Wohnungsanmeldung, Heirat, Scheidung, Gewerbeanmeldung … bis zum seligen Tod, wobei dem Verstorbenen merkwürdigerweise nicht auferlegt wird, sich persönlich auf dem Polizeibureau zu melden und dortselbst das Nötige zu veranlassen. Was passiert, das ist nicht so wesentlich – aber aufgeschrieben muß es sein – sonst gilt es nicht.

Wenn man hier spazierengeht, dann hat man immer folgenden Eindruck:

Ein Mann hackt Holz, zwei verschieben das Holz und dreiunddreißig stehen herum und schreiben auf, was die andern machen. Sie führen Holzlisten und Gegenlisten, sie tragen die Verstöße in ein Buch ein, und die Holzerlaubnisscheine in ein anderes – sie numerieren und kollationieren, und wenn es gut geht, stimmen die Listen, und das Holz ist weg.

Wir hatten mal im Kriege einen Feldwebel, der erzählte mir eines Tages einen Traum. Er sagte wörtlich:

»Heute nacht habe ich geträumt, dass da lauter gefangene Engländer waren. Und die mußten die Seitengewehre abliefern, und ich habe sie alle aufgeschrieben, damit nachher keiner kommen kann und sagen: ›Wo ist mein Seitengewehr?‹« ‹ Ordnung muß sein, und wenns im Traum ist.

Und das Allerlustigste und Allertraurigste ist doch, dass die Listenführer völlig vergessen, dass sie nur Hilfskräfte sind, um irgend etwas zu erleichtern oder durchzusetzen oder zu überwachen … Das gibt es gar nicht. Im Anfang war die Liste, und du darfst froh sein, wenn du zwischen den Behörden, Pässen, Ausführungserlaubnisdokumenten, Abmeldebescheinigungen und Listenzimmern herumgestoßen wirst, ohne dir Arme und Beine zu brechen. Und weil nun bald jeder Deutsche Beamter ist, so hat jeder mindestens eine Liste, in der er Herr ist, und er läßt gern die tausend andern Listen über sich ergehen und schimpft furchtbar und eilt heim zu seiner eigenen Liste. Mit Listen und Tücken muß man dieses Leben überstehen …

Es kommt auch nicht so genau darauf an, dass das alles stimmt – oder dass es gar einen Sinn hat, alles aufzuschreiben. Nein – wenns nur drin steht. Wenn nur überhaupt irgend etwas drin steht. Wie rührend ist der Eifer der Ämter, wenn ihnen irgendeine Angabe zu einer Liste fehlt: sie scheuen keine Mühe und keine (von Steuern bestrittenen) Kosten, um zu ihrer fehlenden Eintragung zu gelangen. Haben Sie einmal gelesen, welche Papiere nötig sind, um ein junges Mädchen zu einer Hebammenschülerin werden zu lassen? Das sollten Sie nicht versäumen. Von der Reglementierung gewisser Institutionen der südlichen Friedrichstadt bis zur Devisenverordnung, die uns allen heilig ist – welcher Wald von Listen! – Manchmal kann man das Leben vor lauter Listen nicht sehen – und das ist auch gar nicht nötig. Denn diese Listen – das ist für viele Leute das Leben.

Wenn mir der liebe Gott jemals vergönnte, auszuwandern – aber daraus wird nichts werden, schon, weil ich beim 8-Uhr-Abendblatt zu viel Vorschuß habe – aber wenn er doch so freundlich ist – ich käme ja nicht heraus. Sondern noch als schlohweißer alter Mann säße ich über die Postille gebückt und füllte Auswanderungsgenehmigungserlaubnislisten aus. Und sänke ins Grab – so, wie ja schon mal einer beim Ausfüllen der letzten Steuererklärung gestorben sein soll …

Nein, es hat schon alles seine Ordnung: Erst trägst du dich in eine Liste ein, dann wartest du ein halbes Jahr, dann geschieht gar nichts, und dann machst du, was du willst – hintenherum. Aber du stehst in der Liste – und das ist viel wert für den Beamten, der sie führt. Denn ständest du nicht drin, so wäre die Liste überflüssig, und wäre die Liste überflüssig, dann wäre der Beamte über … Verzeihung.

Sind Sie einverstanden mit dem, was hier gesagt worden ist?

Dann tragen Sie sich bitte auf der Redaktion in eine Liste ein:

Lfd. Nr.NameDienstgradAlter der SchwiegermutterHaarfarbeOrden und Ehrenzeichen
      

Denn ein Netz von Listenstrichen ist über die deutsche Welt gespannt, und wir sitzen darin. Wie in einem Käfig.

Peter Panter
8-Uhr Abendblatt, 18.05.1923, Nr. 113.