Ilias

Ilias. Ein Heldengedicht, darin Homer die fatalen Folgen der Entzweiung zwischen Agamemnon und Achilles, bei der Belagerung der Stadt Troja, besingt. Die Personen des Gedichts fallen also in ein sehr entferntes Weltalter und der Dichter selbst ist uns nicht merklich näher. Er erzählt Begebenheiten, schildert Menschen und Sachen, die uns in mancherlei Absichten ganz fremd sind. Man wird dadurch mit Sitten, Künsten, Wissenschaften, Politik und Staaten bekannt, die von den Unsrigen sehr entfernt sind. Das Gedicht enthält eine bewunderungswürdige Menge und Verschiedenheit von Begebenheiten, von kriegerischen und politischen Taten und macht uns mit sehr viel Menschen von merkwürdigen Charakteren genau bekannt. Wir lernen fast alle Häupter der so zahlreichen griechischen Stämme und kleiner Völkerschaften, jeden nach seinen eigentümlichen Charakter, kennen. Die Begebenheiten fließen in einer sehr genauen Verknüpfung aus einander und sind mit der größten Geschicklichkeit angebracht, diese in das volleste Licht zu setzen. Die Charaktere sind gleichsam der Reihe nach geordnet und eigene Teile des Gedichts scheinen gewidmet gewisse besondere Stücke in jedem auszuarbeiten.

Die meisten Personen dieses Gedichts sind von hohem Mut, ungestühmen Neigungen, voll von Na tional- oder Familienstoltz und sind in der gewalttätigen Unternehmung, ein mächtiges Volk auszurotten, zusammen verbunden. Alles was Kühnheit, Rache, Eigensinn, kriegerische Ruhmbegierde in Menschen, die von keinem Zwang wissen, hervorbringen kann, erscheint in diesem wunderbaren Gedicht in seiner eigentlichsten Gestalt, mit den natürlichsten Farben und durch die kräftigste Zeichnung ausgedrückt.

 Ihre Religion und ihre Sitten zeugen von der Einfalt der rohen Natur und von unüberlegten oder noch nicht verfeinerten, Empfindungen, einer noch halb wilden Nation. Eben so einfältig, wild und unabgemessen ist auch das Genie des Dichters, der von seiner Materie ganz angefüllt sich hinreißen lässt und selten Zeit nimmt, sich umzusehen oder seine Schritte abzumessen. Unbekümmert ob ihm jemand zuhörn und was andere dabei fühlen können, singt er mit voller Stimme, was er fühlt. Man stellt sich immer dabei vor, dass er alles, was er erzählt, jetzt wirklich vor seinen Augen entstehen sehe und allemal mit dem richtigsten Ausdruck beschreibe. Er sieht aber alles als ein Mensch, dem von den Sitten, der Gemütsart der Personen, von den Künsten und von den Ländern seiner Zeit nichts unbekannt ist.

 Der erste Held der Ilias, auf dessen Charakter sich alles gründet, ist Achilles, ein höchst ungestühmer, zorniger, trotziger und äußerst eigensinniger Jüngling. Er stößt alles vor sich her zu Boden und je größer der Tumult wird, desto mehr glänzt er. So groß dieser im kriegerischen Mut ist, so groß ist Ulysses in Politik und Verschlagenheit und Nestor in gesetzter Weißheit eines, durch mancherlei Erfahrungen klugen Alters. Neben diesen sehen wir eine ganze Schaar anderer Helden, deren jeder der Anführer eines besonderen Stammes ist und der seine, ihm völlig eigene Art zu denken und zu handeln hat. Wir lernen nicht nur alle diese Helden, sondern auch die Völker, die sie anführen, die Länder aus denen sie hergekommen, vieles von ihren besonderen Sitten und Gebräuchen, kennen. Alle diese Helden haben sich vereinigt einen mächtigen Staat zu zerstören, den selbst viele Götter aus allen Kräften unterstützen, dem mehrere Nationen zu Hilfe kommen, dessen Haupt ein ehrwürdiger Greis ist, für welchen eine Schaar Helden, die seine Söhne sind, ihr Leben mit Freuden wagen. Alles, was im Himmel und auf Erden an Macht, an kriegerischem Mut und an politischer Verschlagenheit, groß ist, kommt hier, bald als Angreifer, bald als Verteidiger, dem Leser so vors Gesicht, dass er alles mit Augen zu sehen und mit Ohren zu hören glaubt.

 Das menschliche Genie hat nichts hervorgebracht, dass diesem Werk an Mannigfaltigkeit der Erfindung und an Lebhaftigkeit der Abbildungen gleich komme und im Ganzen genommen wird die Ilias vermutlich das erste Werk des poetischen Genies bleiben. Denn wenn auch ein zweiter oder größerer Homer aufstehen sollte, so würde es ihm allem Ansehen nach, an einem Stoffe fehlen, der ihm Gelegenheit gäbe, so viel berühmte Helden und Häupter so vieler wirklich merkwürdiger und mit so völliger innerer Freiheit handelnder Völker, auf den Schauplatz treten zu lassen.

 


 © textlog.de 2004 • 18.12.2024 16:47:20 •
Seite zuletzt aktualisiert: 14.11.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright  A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  Z