Ideal

Ideal. (Schöne Künste) Durch dieses Wort drückt man überhaupt jedes Urbild eines Gegenstandes der Kunst aus, welches die Phantasie des Künstlers, in einiger Ähnlichkeit mit Gegenständen, die in der Natur vorhanden sind, gebildet hat und wonach er arbeitet. »Jene Bildhauer und Maler, sagt Cicero, hatten als sie das Bild Jupiters oder der Minerva verfertigten, niemand vor sich, dessen Gestalt sie nachzeichneten; sondern ihrem Gemüte war ein Bild von ausnehmender Schönheit eingeprägt, welches sie mit unverwandten Blicken ansahen und wonach sie arbeiteten.«1 Dergleichen Bilder, die der Künstler nur in seiner Phantasie sieht, sind das Ideal, wonach er seinen Gegenstand bildet, wenn er nicht etwa schon in der Natur einen antrift, den er nachbilden könnte. Dieses geht nicht nur auf sichtbare Formen; auch der Dichter bildet Charaktere von Menschen und Engeln in seinem Gemüte und trägt sie von da in seine Gedichte herüber.

 Man kann überhaupt von jedem Gegenstand der Kunst, der nicht nach einem in der Natur vorhandenen abgezeichnet worden, sondern sein Wesen und seine Gestalt von dem Genie des Künstlers bekommen hat, sagen, er sei nach einem Ideal gemacht. Jeder Mensch von irgend einigem Genie, der nicht als ein bloß leidendes Wesen als ein todter Spiegel, nur die Formen der Dinge, die er durch die Sinne empfangen hat, unverändert behält, bildet sich Wesen und Formen nach der Analogie derer, die er in der Natur findet. Aber nur Menschen von großem Genie sind vermögend ideale Formen zu bilden, die an Vortrefflichkeit die in der Natur vorhandenen übertreffen. Diese sind das hohe Ideal, wodurch die Werke großer Künstler eine höhere Kraft bekommen als die ist, die in natürlichen Gegenständen des Geschmacks und Gefühls liegt. Dieses ist das Ideal, dessen Ausdruck der Künstler vorzüglich muss zu erreichen suchen, wenn er seinem Beruff völlig Genüge leisten soll. Zwar hat er schon Verdienste, wenn er zu jedem Werk, das, was sich zum Zweck schickt, in der Natur ausfindig macht und richtig abbildet; aber das höchste Verdienst erreicht er nur vermittelst der Schöpfungskraft, wodurch er das höhere Ideal hervorbringt.

 Dass das menschliche Genie diese Kraft habe, kann nicht in Zweifel gezogen werden: der Apollo im Belvedere ist gewiss so wenig nach der Natur gemacht als Miltons Engel oder Teufel. Die Möglichkeit der Erhöhung der Gegenstände, erhellt nicht nur daraus, dass die Natur, wie ein großer Kenner anmerkt, in ihren Hervorbringungen vielen Zufällen unterworfen ist, da die Kunst frei wirkt2; sie entsteht vornehmlich daher, dass die Natur bei keinem Geschöpfe nur auf einen einzigen Zweck arbeitet, welches der Künstler meistenteils tut. Das Ideal besteht nicht immer in Verbesserung der Natur, sondern auch in Vereinigung dessen, was zum Zweck gehört und Weglassung dessen, was ihm entgegen wäre. Die Natur hat keinen Menschen gebildet, um ihn zum sichtbaren Bild der Majestät zu machen: aber diesen einzigen Zweck hatte Phidias als er seinen Jupiter bildete. Wenn wir bei einem wirklich lebenden Menschen etwas von dem Charakter der Majestät antreffen, so finden wir noch viel anders bei ihm, das damit nicht übereinstimmt, weil die Natur es ihm in anderen Absichten gegeben hat. Dieses andere konnte dem Phidias nicht dienen, darum hätte er nach einen Ideal arbeiten müssen, wenn er gleich das beste Original vor sich gehabt hätte. Es ist damit, wie mit anderen Produkten der Natur. Da sie keine Gefäße von Gold oder Silber macht, wozu diese Metalle rein sein müssen, so bringt sie auch kein reines Gold oder Silber hervor, sondern mit Gestein und Erde vermischt. Die Kunst, die Metalle reinigt, veredlet sie nicht; sondern scheidet nur die Teile, die zu ihrem Zweck nicht dienen, davon ab. Dann sind sie nicht schlechterdings besser, sondern nur zu diesem besonderen Zweck tauglicher. So ist der farnesische Herkules ein vollkommenes Bild dessen, was er sein soll: aber ein Mensch, gerade so gebildet, würde unvollkommener sein als jeder andere wohl gestaltete Mensch. Dieses ist der wahre Begriff den man sich von dem Ideal machen muss.

 Der Künstler, dem die Schilderung der in der Natur vorhandenen Gegenstände zu seinem Zweck hinlänglich ist, hat mit dem Ideal nichts zu tun. Wer sich vorgenommen hat einzelne Menschen ihre Tugenden oder Laster, zu schildern; wer die strengen Sitten des Cato, die patriotische Tugend des Cicero, in einem Drama zeigen will, der muss sich genau an der Natur halten. Wo aber nicht Personen, sondern Tugenden, wo gute oder böse Eigenschaften selbst, zu schildern sind, da muss man das Ideal suchen. Dieses tut der Bildhauer und Maler, der nicht die schöne Phryne, noch die schöne Helena, sondern die weibliche Schönheit, ohne Beimischung dessen, was der persönliche Charakter darin besonders bestimmt, in einem Bilde darstellen will. Überhaupt dient das Ideal um abgezogene Begriffe in ihrer höchsten Richtigkeit sinnlich zu bilden. Darum ist auch nicht jedes Geschöpf der Phantasie, nicht jedes Bild, das wie die Helena des Zeuxis,3 aus einzelnen Teilen anderer zusammengesetzt ist, gleich ein Ideal zu nennen. Was diesen Namen verdienen soll, muss auf das beste den Begriff seiner Art oder Gattung, ohne Beimischung des Einzelen ausdrucken. Darum schickt es sich in den zeichnenden Künsten vornehmlich zu den Statuen4 und zu den Gemälden, die wir Bilder nennen5; weil es dabei nicht darum zu tun ist, wie die abgebildeten Personen ausgesehen haben, sondern zu empfinden, was für einen Charakter sie gehabt haben.

 

–– Denn die Mutter des Unerschaffnen Zeigt, wiewohl der Schmerz sie verhüllt, in ihren

       Gebärden Eine Hoheit, von Engeln (weil die sie am meisten verstanden) Selbst bewundert.7

Es ist zu vermuten, dass nur die besten Köpfe, nachdem sie alle Seelenkräfte lang anhaltend, auf die vollkommene Bildung einer einzigen Idee, vereinigt haben, in einem hellern Augenblicke, die Schöpfung des Ideals vollenden.

Man kann die Künstler in Absicht auf das Genie in drei Klassen einteilen. Die erste oder unterste Klasse enthält die, welche sich genau an die Natur halten und die Gegenstände, die sie nötig haben, ohne Wahl des Bessern, nehmen, wie sie sich darbieten. In der Malerei gehören die meisten Holländischen, so wie auch die meisten Brabandischen und die alten deutschen Maler hierher. In der zweiten Klasse stehen die, welche zwar sich auch an die Natur halten, aber in derselben mit Überlegung und Geschmack das Beste wählen; wie die Maler der römischen und der bolonesischen Schule getan haben. Zur dritten und höchsten Klasse gehören die, denen die höchste Natur nicht mehr Genüge leistet; die deswegen ihr Genie anstrengen in den Gegenständen der Natur das, was zu ihrem Zweck nicht dient wegzulassen, das, was ihnen dient allein herauszusuchen und aus diesen Elementen durch die schöpferische Kraft ihres Genies eigene idealische Formen zu bilden: dieses taten die besten Künstler des Altertums. Mengs urteilt,8 dass Niemand von den Neueren auf dem Weg der Vollkommenheit der alten Griechen gegangen sei. Es würde verwegen sein, einem solchen Meister der Kunst geradezu zu widersprechen: aber dass Raphael, Hanibal Carraci und einige andre, wenigstens in einigen Arbeiten, das höchste Ideal gesucht haben, kann kaum geleugnet werden; also will Mengs vermutlich bloß sagen, dass keiner der Neueren die hohe Vollkommenheit der Griechen erreicht habe und hierin wird ihm wohl niemand widersprechen.

 

__________________

1 Illi artifices vel in simulacris vel in picturis cum facerent Iovis formam, aut Minervæ, non contemplabantur aliquem a quo similitudinem ducerent; sed ipsorum in mente insidedat species pulchritudinis eximiæ quædam; quam intuentes in eaque defixi, ad illius similitudinem artem et manum dirigebant. Cicero in Orat.

2 Mengs Gedanken über die Schönheit S. 12.

3 S. Cic. de Invent. L. II.

4 S. Statue.

5 S. Historie.

6 S. Erfindung. S. 336 .

7 Meß. VII. Ges.

8 In dem angezogenen Werk S. 15.

 


 © textlog.de 2004 • 18.12.2024 17:18:53 •
Seite zuletzt aktualisiert: 14.11.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright  A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  Z