Nachahmungen

Nachahmungen. (Musik) Melodische aufeinander folgende Sätze, die mehr oder weniger Ähnlichkeit unter einander haben. Allgemein werden sie nach dem lateinischen Ausdruck Imitationen genannt. Man bringt sie so wohl in einer als in mehreren Stimmen, bald mit strengerer, bald mit weniger genauer Ähnlichkeit an und nennt sie deswegen strenge oder freie Nachahmungen. Jene kommen meistens in Fugen und fugierten Sachen, diese in allen figurierten Tonstücken vor.

 Wenn einmal ein melodischer Satz gefunden worden, der den Charakter der Empfindung, die man ausdrücken will, hat; so muss auch jeder ihm mehr oder weniger ähnliche Satz, etwas von diesem Charakter an sich haben. Und da die singende Sprache in Ansehung der Mittel sich bestimmt auszudrücken, unendlich eingeschränkter ist als die redende; so musste sie, um einen hinlänglichen Vorrat melodischer Gedanken von gutem Ausdruck zu bekommen, sich des Mittels der Nachahmung bedienen, um in einer Melodie die Einheit des Charakters zu erhalten. Tonsetzer von fruchtbarem Genie wissen zwar in einer Melodie mehrerlei ganz verschiedene, aber im Charakter ähnliche Gedanken anzubringen: dennoch können sie die Nachahmungen nicht wohl entbehren und würden es auch nicht tun, weil es angenehm ist, denselben Gedanken in mehreren Wendungen und in verschiedenen Schattierungen zu hören. Darum muss jeder Tonsetzer sich der Nachahmungen auf eine geschickte Weise zu bedienen wissen. Am notwendigsten aber sind sie in solchen Stücken, wo mehrere Hauptstimmen sind, wie in Duetten, Terztten, in Trio und dergleichen Stücken. Denn ohne sie würde in diesen vielstimmigen Tonstücken entweder bloß eine Hauptstimme sein, welcher die anderen nur zur Begleitung dienten oder es würde in den verschiedenen Hauptstimmen keine Einheit des Charakters angetroffen werden. Es ist also höchst nötig, dass der Tonsetzer in den Nachahmungen wohl geübt sei.

 Mehrere ähnliche Sätze zu finden, ist nun zwar an sich sehr leichte; aber wenn man dabei die erfoderliche Verschiedenheit der Harmonie beobachten und zugleich harmonisch rein setzen will, so stößt man gar oft auf nicht geringe Schwierigkeiten. Es braucht gar keine große Kenntnis zu sehen, dass dieser kurze Satz: auf folgende Weise könne nachgeahmt werden. Aber beide nach einander setzen und einen Bass von guter Harmonie dabei anbringen, kann nur der Harmoniste.

 Man kann jungen Tonsetzern besonders in unseren Zeiten, da man sich die Kunst so sehr leicht vorstellt, nie genug wiederholen, dass sie sich mit anhaltendem Fleiß im reinen Kontrapunkt üben; weil dieses das einzige Mittel ist in Nachahmungen glücklich zu sein. Zuerst also muss man sich im einfachen Kontrapunkt festsetzen und zu einer gegebenen Stimme zu einem Cantus sirmus mehrere, nach den Regeln des reinen Satzes, bald in gerader, bald in verkehrter Fortschreitung, bald in eben so viel, bald in mehreren Noten verfertigen. Nur dadurch wird man zur guten Behandlung der Nachahmungen vorbereitet. Ist man hierin hinlänglich geübet, so muss man mit eben dem anhaltenden Fleiße die Übungen im doppelten Kontrapunkt vornehmen, durch den man unmittelbar die genauesten Imitationen erhält. Ohne lange Vorbereitung durch Ausübung beider Arten des Kontrapunkts ist es nicht möglich wahre Nachahmungen gut anzubringen. Denn dass sich einige seichte Tonsetzer einbilden, sie haben Nachahmungen gemacht, wenn sie einen nichtsbedeutenden Satz vermittelst kahler und zerriger Versetzungen (Transpositionen) des Basses in den Stimmen abwechselnd wiederholen, wie in diesem Beispiel zeugt von ihrer Unwissenheit. Dergleichen vermeinten Nachahmungen dienen zu nichts als ein Stück desto geschwinder abgeschmackt zu machen. Nicht viel besser sind die Wiederholungen eines Gedankens im Einklang oder in der Oktave, ohne Veränderung der zum Grunde liegenden Harmonie, wie etwa folgendes: Wahre Nachahmungen lassen uns einerlei Stellen mit anderen Harmonien und mit veränderten Melodien andrer Stimmen hören und dadurch bekommen sie ihre Annehmlichkeit. Man kann mit der Nachahmung in verschiedenen Intervallen, in der Sekunde, Terz, Quart u.s.w. eintreten und muss mit diesen Eintritten gehörig abzuwechseln wissen. Dazu aber ist, wie schon gesagt worden, die Wissenschaft des doppelten Kontrapunkts unumgänglich notwendig; weil eben dadurch diese verschiedenen Eintritte erhalten werden, wie aus folgenden Beispielen erhellt. Der Satz, der hier mit (a) bezeichnet ist, wird bei (b) im Kontrapunkt der Oktave genau nachgeahmt; bei (c) in dem Kontrapunkt der Terz und bei (d) im Kontrapunkt der Decime. Dadurch erhält man den Vorteil, dass derselbe Satz in der Nachahmung fremd klingt und dass die verschiedene Modulation dem Tonstück bei der Einheit der Gedanken die gehörige Mannigfaltigkeit verschaffet. Wir können jungen Tonsetzern keinen bessern Rat hierüber geben als das wir sie auf das fleißige Studiren der Graunischen Duette verweisen, wo sie die vollkommensten Muster der strengen Nachahmung bei dem schönsten Gesang und der ungezwungensten Modulation antreffen.

In den Fugen ist es eine Hauptregel, dass jeder Zwischengedanken sich auf die Hauptsätze, den der Führer oder der Gefährte hat, beziehen sollen. Dieses wird dadurch erhalten, dass man die Töne dieser Zwischensätze aus der Harmonie oder dem Gesang der Hauptsätze nimmt, wodurch die freie Nachahmung entsteht. Man sehe das im Artikel Fuge stehende Beispiel, wo am Ende des vierten Takts ein solcher Zwischensatz angeht, der eine freie Nachahmung des Führers ist.

 


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