Naiv

Naiv. (Schöne Künste) Es ist schwer den Begriff dieses Wortes festzusetzen, das so vielfältig nur willkürlich gebraucht wird; das einmal etwas lächerliches, ein andermal etwas rührendes und liebenswürdiges ausdrückt. Es scheint überhaupt, dass das Naive eine besondere Art des natürlich Einfältigen sei und dass dieses dann naiv genannt werde, wenn es gegen das Verfeinerte und Überlegte, das einmal schon wie zur Regel angenommen worden, merklich absticht. Ein Mensch der fern von der größeren gesellschaftlichen Welt erzogen worden, der von den feineren Lebensregeln, von der raffinirten, aber zur Gewohnheit gewordenen Höflichkeit und dem ganzen Ceremonialgesetz der feineren Welt nichts weiß, der nur auf sich selbst und nicht auf das, was andere von ihm denken mögen, acht hat; ein solcher Mensch wird in den meisten Gesellschaften etwas lächerlich scheinen, nach ihrem Urteilen ins Grobe fallen, aber naiv genannt werden. Doch mit eben dieser Benennung werden auch viele Gedanken, Empfindungen und andere Äusserungen einer Sevigne belegt, die zwar immer in der großen Welt gelebt hat und der das ganze Gesetzbuch der galanten Welt bis auf den geringsten Artikel bekannt war, die aber sich gar oft den richtigen Vorstellungen und natürlich edeln Empfindungen ihres eigenen Charakters überlassen hat, welche nichts von dem Modegepräg dessen, was bei ähnlichen Veranlassungen die feinere Welt zu äußeren pflegte, an sich hatten.

 Von welcher Seite her man das Naive untersucht, so zeigt sich, dass es seinen Ursprung in einer mit richtigem Gefühl begabten, von Kunst, Verstellung, Zwang und Eitelkeit unverdorbenen Seele habe. Die Einfalt und Offenherzigkeit im Denken, Handeln und Reden, die mit der Natur übereinstimmt und auf welche nichts willkürliches oder gelerntes von Außenher den geringsten Einfluss hat, insofern sie gegen das feinere, überlegtere, mit aller Vorsichtigkeit das Gebräuchliche nicht zu beleidigen, abgepasste, absticht, scheint das Wesen des Naiven auszumachen. Es äußert sich in Gedanken, im Ausdruck, in Empfindungen, in Sitten, Manieren und Handlungen.

  In Gedanken oder der Art sich eine Sache vorzustellen, scheint mir folgendes bis zum Erhabenen naiv. Adrast kommt mit den Müttern der von Theben erschlagenen Jünglinge zum Thesus, ruft ihn um Hilfe gegen den Creon an, der nicht erlauben will, dass die Erschlagenen begraben werden. Theseus, anstatt dem Adrast seine Bitte sogleich zu gewähren oder abzuschlagen, macht sehr viel Worte ihm zu beweisen, dass er sich in diesen Krieg gar nicht hätte einlassen sollen. Hierauf gibt ihm Adrast diese naive Antwort.

 »Ich bin nicht zu dir gekommen als zu einem Richter meiner Taten, sondern als zu einem Arzt meines Übels. Ich suche keinen Rächer meiner Vergehungen, sondern einen Freund, der mich aus der Verlegenheit ziehe. Willst du mir meine billige Bitte versagen, so muss ich mirs gefallen lassen; denn zwingen kann ich dich nicht. Kommet also ihr unglücklichen Mütter und kehrt zurücke; werfet diese unnütze Zeichen, wodurch Supplicanten sich ankündigen, weg und rufet den Himmel zum Zeugen an, dass eure Bitte von einem König verworfen worden, der unser Blutsverwandter ist.«1

 Dies ist gerade zu, was der richtigste natürliche Verstand und die Einfalt der Empfindung in diesem Fall eingaben. Diese äußert Adrast, ohne die vorsichtige Bedenklichkeit, dass er den Theseus dadurch beleidigen könnte; ohne die, feinern Köpfen gewöhnliche Vorsicht, sich bei dem, den man um Hilfe anspricht einzuschmeicheln, legt er das Ungereimte in dem Betragen des Theseus an den Tag, gerade so wie er es empfindet; ohne zu bedenken, dass vielleicht Theseus viel Umstände mache, um seine Hilfe dadurch mehr gelten zu machen, nimmt er es als für eine unwiderrufliche Weigerung an und geht davon.

 Das Naive im Ausdruck besteht in Worten, die geradezu die Gedanken oder die Gesinnungen der Unschuld ausdrücken, aber durch spizfindige oder schalkhafte Anwendung einen nachteiligen Sinn haben können, an den die redende Person aus Unschuld oder Unwissenheit nicht gedacht hat. Die Schalkhaftigkeit findet darin etwas Ungesittetes oder Grobes, wo bloß Unschuld und edle Einfalt ist.

 Empfindungen und deren Äußerung in Sitten und Manieren sind naiv, wenn sie der unverdorbenen Natur gemäß und obgleich der feineren Verdorbenheit des gangbaren Betragens zuwieder, ohne Rückhaltung, ohne künstliche Verstekung oder Einkleidung, aus der Fülle des Herzens herausquellen. Beispiele davon findet man überall in Bodmers epischen Gedichten aus der patriarchischen Welt; in den Epopöen des Homers und in den Idyllen des Theokritus und unseres Geßners. Es hat auch in zeichnenden Künsten, im Tanz, in den Gebärden und Stellungen der Schauspieler statt. Nichts ist unschuldsvoller, naiver und gegen unsere künstliche Manieren abstechender als die verschiedenen Stellungen und Gebärden, die Raphael der Psyche in den Vorstellungen ihrer Geschicht im farnesischen Palaste gegeben hat.

 Das Naive macht keine geringe Klasse des ästhetischen Stoffs aus; es ist nicht nur angenehm, sondern kann bis zum Entzücken rühren. Deswegen sind bloß in dieser Absicht die Werke des Geschmacks, darin durchaus naive Empfindungen und Sitten vorkommen, höchst schätzbar; weil sie den Geschmack an der edlen Einfalt einer durchaus guten und liebenswürdigen Natur unterhalten und verstärken.

 Das Naive in den Gedanken tut da, wo man überzeugen, entschuldigen oder wiederlegen will, die größte Wirkung; denn es führt das Gefühl der Wahrheit unmittelbar mit sich. In der Elektra des Sophokles wird diese unglückliche Tochter des Agamemnons von der Clytemnestra beschuldiget, sie suche durch ihre Klagen ihrer Mutter Reden und Handlungen verhasst zu machen. Hierauf gibt Elektra diese höchst naive Antwort, die keiner Gegenrede Raum lässt. » Diese Reden kommen von dir, nicht von mir her, du thust die Werke, die ich bloß nenne2 Sehr naiv und eben dadurch überzeugend ist auch folgendes; wiewohl das Weitschweifende dieser Stelle, vielleicht zu tadeln wäre. Pseudolus

Si ex te tacente fieri possem certior Here, quæ miseriæ te tam misere macerant Duorum laberi ego hominum parsissem lubens, Mei te rogandi et tui respondendi mihi.

Nunc quoniam id fieri non potest, necessitas Me subigit ut te rogitem.3

Der Redner, dem es gelinget den wahren Ton der Einfalt und des naiven Denkens zu treffen, kann versi chert sein, dass er überzeugt. Dieser Ton ist vornehmlich in der äsopischen Fabel notwendig, wo der Dichter oft die Person eines einfältigen und leichtgläubigen Menschen annehmen muss, um seinen Leser treuherzig zu machen.

 Es gibt auch eine schalkhafte angenommene Naivität die in der spottenden Satyre ungemein gute Wirkung tut, das Lächerliche anderer recht ans Licht zu bringen. Swifft ist darin der größte Meister und Liscov hat mit der verstellten naiven Einfalt, mit welcher er die Philippi und Sivers beurteilt, diese Helden höchst lächerlich gemacht. In der Komödie kann dieses zur Demütigung der Narren von sehr großer Wirkung sein. Denn was ist empfindlicher als von der Einfalt selbst lächerlich gemacht zu werden?

 Ich begnüge mich hier mit diesen wenigen Anmerkungen über das Naive, um das Vergnügen zu haben, hier einen Aufsatz über diese Materie einzurücken, den mir einer unserer ersten Köpfe vor vielen Jahren zu diesem Behuf zugeschickt hat. Der jetzt berühmte Verfasser, schrieb ihn zu einer Zeit, da er noch jung war; aber man wird ohne Mühe darin das sich entwickelnde Genie antreffen, welches gegenwärtig sich in seinem vollen Glanze zeigt. Hier ist er Wort für Wort.

 Ich wundere mich nicht dass der Brief über die Naivete im 3ten Teil des Cours des Belles - Lettres des Abts Batteux ihnen so wenig als das, was Bouhours vom Naiven sagt, ein Genüge getan hat. Alles was Herr Batteux über diese Materie geschrieben hat, dient vortreflich sie noch verworrener zu machen als sie dem Leser vorher hat sein können. Statt bestimmter Begriffe werden wir mit Bildern, Gleichnissen und Gegensätzen abgefertigt; und wenn wir eine Erklärung verlangen, so antwortet man uns: die Naivität besteht in der Kürze – in einer solchen Anordnung der Worte, Glieder und Perioden, die dem Endzweck des Redenden gemäß ist. Nach der letzten Erklärung sehe ich nicht warum die Reden eines Parlamentsadvocaten nicht eben so naiv sein mögen als die Briefe der Sevigne oder der schönen Zilia. Ich will mich die Schwierigkeit, die von der Zärtlichkeit dieser Materie entsteht, nicht abhalten lassen, einen Versuch zu machen sie genauer zu behandeln und die Quelle und eigentliche Beschaffenheit des Naiven aufzusuchen. Es wird dann leicht sein, das Naive des Ausdrucks zu bestimmen, wenn wir erst ausgemacht haben, was die Naivete der Gedanken ist. Ich werde aber mit meiner Untersuchung weit oben anfangen müssen.

 Die Rede soll eigentlich ein getreuer Ausdruck unserer Empfindungen und Gedanken sein. Die ersten Menschen haben bei ihren Reden keinen anderen Zweck haben können als einander ihre Gedanken bekannt zu machen und wenn sie und ihre Kinder die angeschafne Unschuld bewahrt hätten, so wäre die Rede nach ihrer wahren Bestimmung ein offenherziges Bild dessen, was in eines jeden Herzen vorgegangen wäre und ein Mittel gewesen, Freundschaft und Zärtlichkeit unter den Menschen zu unterhalten. Jedermann weiß, dass die Sprache von den jetzigen Menschen meistenteils gebraucht wird, anderen zu sagen, was sie nicht denken noch empfinden, so dass die Rede demnach sehr selten ein Zeichen ihrer Gedanken ist. Diese große Veränderung, muss unstreitig die Folge einer wichtigen Veränderung im Innwendigen der Menschen sein. Diese müssen Empfindungen, Gedanken und Absichten haben, welche sie einander nicht zeigen dürfen. In der Tat ist die menschliche Natur von ihrer Bestimmung und schönen Anlage so stark abgewichen, dass in dem Innern des Menschen, an die Stelle der liebenswürdigsten Neigungen, anstatt der Unschuld, Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Menschenliebe – Bosheit, Unbilligkeit, Unmäßigkeit, Neid und Hass getreten; und im Äusserlichen die Einfalt dem Gezwungenen, die Offenherzigkeit der Verstellung, die Zärtlichkeit der kaltsinnigen Höflichkeit hat weichen müssen. So bald die Menschen von einander betrogen worden, muste sich ein allgemeines Misstrauen unter ihnen zeigen. Weil sie aber doch in Gesellschaft zu leben sich gemüßiget sahen, so erfanden sie allerlei Mittel sich einander zu verbergen, sich in Acht zu nehmen einander auszuforschen u.s.w. Und weil man anstatt der herzlichen und brüderlichen Zuneigung, die eigentlich unter den Menschen herrschen sollte, etwas anders haben musste, das ihr von außen ähnlich sehen, im Grund aber ganz das Gegenteil sein möchte; so erfand man die Höflichkeit, das Ceremoniel und alles was dazu gehört. Seit der Zeit ist die Rede der Menschen allgemein weitläufig, sinnleer, doppelsinnig, unbestimmt, gekräuselt, steif und affektirt worden. Eine Gesellschaft kann etliche Stunden mit aller ersinnlichen Artigkeit und mit beständiger Bewegung der Lippen nichts reden – Todfeinde können einander vertraulich und liebreich unterhalten – einer kann mit großem Wortgepräng von der Frömmigkeit oder anderen Tugenden reden, die er doch nie selbst empfunden hat; man kann izo aus den äußerlichen Zeichen der Freude oder Traurigkeit, der Freundschaft oder des Hasses, mit schlechter Zuversicht auf die wahre Gemütsverfassung einer Person schliessen; denn man hat den Affekten selbst eine Sprache vorgeschrieben, von der die Natur nichts weiß.

  Bei solchen Menschen würden wir die Naivete, welche eine Eigenschaft der schönen Natur ist, vergeblich suchen. Lassen sie uns in die glücklichen Wohnungen des ersten Paares oder auch in die einfältigen und freien Zeiten der frommen Patriarchen zurückgehen, dort werden wir sie mit der Unschuld ge paart finden. Wir werden sie in den Herzen und in der Sprache solcher Menschen finden, die, ihrer Bestimmung gemäß, eine heilige Liebe gegen ihren göttlichen Wohltäter und eine allgemeine Zuneigung gegen ihre Mitgeschöpfe tragen, die einen unverderbten Geschmack am Schönen und Guten haben und alle ihre sanften und harmonischen Begierden nach demselben richten. In solchen Herzen kann kein Misstrauen, keine Verstellung Platz haben; alle ihre Handlungen und Reden haben etwas offenherziges und ungekünsteltes. Sie dürfen ihre Gedanken Gott zeigen, warum nicht den Menschen? Sie haben nicht nötig ihre Affekten zu hinterhalten, denn sie sind gut; ihre Worte müssen ihr Herz ausdrücken oder ihre Augen und Gesichtszüge würden ihren Lippen widersprechen. Die Reden solcher Leute sind aufrichtig, wahr, kurz und kräftig, wie ihr Innwendiges unschuldig und edel ist; sie sind herzrührend, weil sie vom Herzen kommen. Sie wissen nichts von Moden und Manieren, nichts von allen den Einschränkungen, dem Zwang welchen das Misstrauen der Aufführung, ja den Gebärden der verderbten Menschen anlegt, nichts von der falschen Schaam, über Dinge zu erröthen, die an sich gut unschuldig sind. Und dieses ist dann, meiner Meinung nach, das Naive in den Sitten, der Denkart und den Reden der Menschen. Je näher einer diesem Stand der schönen Natur ist, desto mehr hat er von dieser liebenswürdigen Naivität.

 Ich glaube dass ich es kühnlich für eine allgemeine Erfahrung ausgeben darf, dass diese Naivete allemal mit einer gewissen äußerlichen, sichtbaren Anmut verknüpft ist, die man nicht definiren aber vermittelst eines feinen Geschmacks ganz klar empfinden kann. In der poetischen Sprache könnte man von diesem je ne sai quoi sagen, es sei der Wiederschein eines schönen Herzens. Ohne Zweifel hat diese Anmut ihren Grund, sowohl in der ersten Anlage des Körpers als auch in der Übung in edlen und harmonischen Gemütsbewegungen, welche eine große Kraft haben, einem sonst nicht schönen Gesicht eine Lieblichkeit zu geben, die weit über den leblosen Glanz der Farben oder über die Regelmäßigkeit der Züge an einem geistlosen Bilde geht. Sie sehen hieraus, mein Herr, wo die Naivete vornehmlich statt hat, nehmlich bei ganz unschuldigen und kunstlosen Sitten, da die Tugend mehr vom Instinkt als von deutlichen Überlegungen getrieben wird und in Reden, Affekten und Taten welchen man solchen Leuten beilegt. Diese Eigenschaft ist von einer schönen Seele unzertrennlich; sie ist daher auch von einer groben bäurischen Einfalt, die man vielmehr Dummheit heißen sollte, so sehr unterschieden als von der Affectation; so wie die Reinlichkeit gleichweit von Pracht und Unsauberkeit absteht. Die Schäferspiele des Hrn. Gottscheds kön nen deswegen keinen Anspruch auf die Naivete machen, obgleich seine Greten und Hansen die Sprache des gemeinsten Pöbels reden.

 Der Noah und manche andere Gedichte von demselben Verfasser sind von Beispielen des Naiven voll. Der Charakter der Sunith in der Sündfluth, die Liebesgeschichte der Dina, die Kerenhavuch im Noah u.s.w. sind schöne Beweise wie liebenswürdig die ungeschmückte schöne Natur ist, ja wie reizend sie so gar durch die Wolke hindurchscheint, die eine Vergehung der Unvorsichtigkeit vor ihre Schönheit ziehet. Ein jeder empfindlicher Leser wird eine zärtliche Gewogenheit gegen Sunith fühlen, da sie ihrer Mutter mit einer so edlen Offenherzigkeit ihre geheimsten Gedanken entdeckt und sich gar keine Mühe gibt, durch besonders ausgesuchte Worte ihre Neigung zu beschönigen oder zu decken als ob sie sich heimlich bewußt wäre, dass sie verborgen bleiben sollte. Ja wie erhaben wird sie durch das aufrichtige Geständnis, das sie dem Dison von der Liebe, die sie zu ihm getragen, macht? Sie darf sich nicht scheuen einem Liebhaber, den sie eben jetzt unwürdig findt, ihre vorige Neigung zu ihm zu gestehen, weil sie sich auf die Stärke ihres Herzens verlassen kann, welches durch ein solches Geständnis von dem Hass gegen die Laster ihres Liebhabers nichts nachließ. Die Briefe einer Peruvianerin sind vornehmlich wegen ihrer Naivete un vergleichlich schön. Man glaubt die sanfte Stimme der Natur zu hören, wenn Zilia redet. Wir sehen in die innersten Gänge ihres zärtlichen Herzens, wir sind bei der Entwicklung ihrer Gedanken, wir nehmen alle ihre Empfindungen an. Wir weinen wie sie weint und in der äußersten Bangigkeit ihres Schmerzens, glauben wir, wie sie, einen Anfang der Vernichtung zu fühlen. Unser Gedächtnis sagt uns, dass wir in der Liebe, in der Traurigkeit, in der Verwunderung oder Bestürzung, in einem angenehmen Hayn, u.s.w. wie sie empfunden haben; wir wundern uns nur, dass sie die zarten Empfindungen beschreiben kann, die wir für nahmenlos gehalten, weil wir sie nicht so lebhaft und mit so vieler Apperception fühlten als sie. Dann eben diejenigen Personen, bei denen am meisten Naivete ist, haben für das Schöne und Freudige sowohl als für das Unangenehme die stärkste Empfindlichkeit; und weil sie wenig äußerliche Zerstreuungen und viel innerlichen Frieden haben, so wendet sich die Schärfe ihres Geistes mehr auf sich selbst, sie gehen mehr mit ihren eigenen Gedanken um, sie hören ihre leisesten Regungen und können in ihren Vorstellungen ungestörter und weiter fortgehen als andre. Daher sind auch Personen von dieser Art allemal Original. Zwar ein jeder Mensch würde sich gar merklich als Original vor den anderen ausnehmen, wenn nicht Verstellung, Zwang, Nachahmung, Moden und derglei chen unter uns so gemein und in gewissem Maß unvermeidlich wären. Wo nun keine Verstellung, keine Nachäffung, keine Furcht vor Missdeutung, – ist, da kann es nicht fehlen, eine solche freie Seele muss in ihren Empfindungen und Urteilen sehr viel eigenes äußern. Die Unwissenheit ist noch eine Beschaffenheit, die mit der Naivete mehr oder weniger verbunden ist. Diese Unwissenheit ist zum Teil glücklich, sie ist ein Mangel an hässlichen Auswüchsen oder überflüssigen und der angebornen Schönheit hinderlichen Zierraten – zum Teil ist sie eine Leerheit, die der Geist mit einigen Missvergnügen in sich fühlt und sich daher bestrebt, sie auszufüllen. Deswegen sind naive Personen allezeit neugierig, wie wir dieses an Miltons Eva, an Zilia, Sunith oder Dina sehen können.

 Es ist notwendig mit dem Naiven in Sitten und Gemütsbewegungen verbunden, dass die Personen welche so glücklich sind, gleichsam unter den Flügeln der Natur zu leben, von einer großen Menge Sachen und Nahmen, welche letztere zum Teil nichts, zum Teil nichts gutes bezeichnen, gar nichts wissen. Ihre Sprache muss daher viel kürzer und eigentlicher sein als die unsrige. Sie wissen nichts von einer unzählbaren Menge überflüssiger Notwendigkeiten, nichts von eben so vielen Wörtern die man erfinden musste, böse Neigungen und Absichten zu masquiren oder wenig stens das Ohr mit dem Laster zu versöhnen. Sie nennen die Dinge mit ihrem rechten Nahmen, ihre Reden haben mehr Kürze, ihre Sätze mehr Rundung und überhaupt ihre Gedanken ganz besondere Wendungen. Dieses ist die vornehmste Ursach, warum die Sprache der Naivete so einfältig, eigentlich und ausdruckend ist; so wie sie als ein wahrhaftes Bild ihres schönen Herzens, nett bei allem Mangel an Schmuck und edel bei aller Nachlässigkeit ist. Übrigens würde man sich irren, wenn man dieser einfältigen Sprache alle Metaphern und Figuren nehmen wollte. Das Herz und die Affecten haben ihre eigne Figuren und je naiver eine Person ist, desto lebhafter wird sie ihren Affect von sich geben, weil er gut ist und sie sich nicht scheuen darf, ihn sehen zu lassen.

 Woher kommt es, dass die moralische Naivete, einer Zilia z. B. oder der siegenden Sunith, uns so stark und bis zur Entzückung gefällt? Ohne Zweifel daher, weil nichts schöners ist als die wahre Unschuld einer Seele, die sich immer entblößen darf, ohne beschämt zu werden. Ein solcher Anblick muss notwendig unserem moralischen Sinn mehr Vergnügen geben als uns das Gefühl einer jeden anderen Schönheit machen kann. Weil es aber viele Grade und Arten der Naivete gibt, so wollen wir diejenige, welche aus der wahren Unschuld entspringt, das Erhabene Naive nennen. Die übrigen Grade mögen nach ihrer größeren oder kleineren Entfernung von der schönen Natur abgemessen werden. Denn es muss auch noch ein Raum für die mutwillige Galathea des Virgils und den alten rosenbekränzten Anakreon übrig sein.

 Die Minnegesänge aus dem XIII Jahrhundert sind reich an Beispielen naiver Passionen und Ausdrückungen derselben. Die Sitten der damaligen Zeit müssen, nach allen Urkunden die uns von der Regierung des vortreflichen Schwäbischen Hauses übrig geblieben sind, von ihrer ehemaligen Rauhigkeit und Wildheit gradeso viel verloren haben, dass sie bei ihrer Einfalt und Bescheidenheit, Artigkeit und eine gefällige ungekünstelte Wohlanständigkeit besitzen konnten. Die meisten der Liebesgedichte werden von dem Geist der sittsamen und inbrünstigen Liebe beseelt. Diese Sänger kennen die Sprache der Empfindungen, wie es scheint aus Erfahrung. Eigene oft verwundersame Einfälle und neue anmutige Wendungen findet man häufig bei ihnen. Ich glaube dass es Ihnen nicht unangenehm sein werde, M. H. wenn ich ihnen einige Proben davon vorlege:

 

Vil süsse Minne du hast mich betwungen Das ich muos singen der vil minneklichen Nach der min Herze je hat da her gerungen Du kan vil suesse dur min Ougen slichen Al in min Herze lieplich unz ze gerunde Wand ane Gott nieman erdenken konte So lieplich lachen von so rotem Munde.

Ich wolde ir gefangen sin gerne unverdrossen So das si mich dort solde In blanken Armen haben geschlossen. Niemer könd ich min leit gerechen An der truten bas Ihr Mündel küst ich und wolde Sprechen Sich, diner Röte habe du das.

Ich bin also minne wise Und ist mir so rehte lieb ein Wip Das ich in dem Paradyse Niht so gerne wisse minen Lip Als da ich der guoten solde sehen In ir Ougen minneklichen Da möhte lieblich Wunder mir geschehen.

Ich wande ich iemer solde lachen. Do ich dich Frouen lachen sah etc.

Ir vil liehten Ougen blig Wirset hoher Froeiden vil Ir gruos der git selde und ere Ir schone dü leit den strik

Der Gedanke vahen will Des git ir Gedanke lere Mit zuht das irs nieman wissen sol Swes gedenken gegen ir swinget Minne den so gar betwinget Das er git gevangen froeiden zol.

 

Ich gestehe ihnen mit einem jeden Leser, der die feinen Schönheiten der einfältigen Natur empfinden kann, dass die Fabeln und Erzählungen des Hrn. Gellert, die Sie so sehr lieben, größtenteils sehr naiv erzählt sind. Gar oft entsteht diese Naivete aus den Gedanken selbst und der aufrichtigen kunstlosen Ausbildung derselben; manchmal aber scheint sie bloß in dem Ausdruck oder in der Wendung zu liegen, die aber nicht etwa so neu und sonderbar ist, wie bei den Minnesingern, sondern bloß in der genauen Nachahmung der gemeinen und manchmal pöbelhaften Art zu reden oder zu erzählen besteht, wie man aus der Erzählung vom Bauer und seinem Sohn, der Missgeburt, vom betrübten Wittwer und einigen anderen sieht. Viele halten diese Fabeln und Erzählungen, vornehmlich um der vielen Fragen, Einwürfe, satyrischen Parenthesen, kleiner lustiger Anmerkungen etc. die in der Erzählung mit eingeschoben werden, für sehr naiv. Ein jeder erinnert sich, dass er witzige und lustige Köpfe in seiner Bekanntschaft gehabt hat, die ungefähr so auf diese Art erzählen. Man hält deswegen diese Art der Erzählung für sehr natürlich. Die Leser von gesunden Geschmack mögen entscheiden, ob der Verfasser der Erzählungen, die einfältige, ungeschmückte, leichte, aber edle Sprache der Erzählung nicht besser getroffen habe. Man kann übrigens mit Grunde sagen, dass ein guter Teil der Erzählung des Herrn Gellerts von solchem Inhalt sind, dass sie dergleichen Zierraten und Fransen sehr nötig haben und dass der allgemeine Beifall zu allen Zeiten notwendiger Weise auf seine Seite sein muss.

 Mich deucht man könne die naive Schreibart gar füglich und im Gegensatz mit der gekünstelten und gezierten, mit jenem angenehmen Mädchen vergleichen, dessen natürliche Schönheiten und unerworbene Reizungen den Cherea beim Terenz so sehr entzünden.

Haud similis virgo est virginum nostrarum, quas matres student Demissis humeris esse, vincto pectore, ut gracilæ sient Si qua est habitior paulo, pugilem esse ajunt, deducunt cibum Tametsi bona est natura, reddunt cultura junceas –– –– Sed istæc nova figura oris Kolor verus, corpus folidum et succiplenum.

 

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1 Eurip. ’..et.de. 

2 Soph. El. vs. 626. 627.

3 V. Pseudol. Act. I. sc. 1


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