Natürlich. (Schöne Künste) Dieses Beiwort gibt man den Gegenständen der Kunst, die uns so vorkommen als wenn sie ohne Kunst, durch die Wirkung der Natur da wären. Ein Gemälde, das gerade so in die Augen fällt als sähe man die vorgestellte Sache in der Natur; eine dramatische Handlung, bei der man vergisst, dass man ein durch Kunst veranstaltetes Schauspiel sieht; eine Beschreibung, die Vorstellung eines Charakters, die uns die Begriffe von den Sachen geben als wenn wir sie gesehen hätten; der Gesang, wobei uns dünkt, wir hören das Klagen oder die freudigen, zärtlichen, zornigen Äußerungen einer von wirklichen Leidenschaften durchdrungenen Person – Alles dieses wird natürlich genannt. Bisweilen wird auch insbesondere, das Ungezwungene, Leichtfließende in Darstellung einer Sache mit diesem Worte bezeichnet; weil in der Tat alles, was die Natur unmittelbar bewirkt, diesen Charakter an sich hat. Daher kann man auch einen Gegenstand natürlich nennen, den der Künstler nicht aus der Natur genommen, sondern durch seine Dichtungskraft gebildet hat, wenn er ihm nur das Gepräg der Natur zu geben gewußt hat.
Auch außer der Kunst nennt man das natürlich, was keinen Zwang verrät, was nicht nach Regeln, die man durch die Tat entdecken kann, abgepasst, sondern so da ist oder so geschieht, dass es das gerade, einfache Verfahren der Natur zu erkennen gibt. So nennt man den Menschen natürlich, der sich in seinen Reden, Gebärden, Bewegungen, mit vollkommener Einfalt, ohne alle Nebenabsichten, ganz seinem Gefühl überlässt, ohne daran zu denken, dass er auf eine gewisse gelernte Weise handeln müsse.
Das Natürliche ist eine der vorzüglichsten Eigenschaften der Werke der Kunst; weil das Werk, dem es mangelt, nicht völlig das ist, was es sein soll und weil diese Eigenschaft schon an sich die Kraft hat, uns zu gefallen. Diese beiden Sätze verdienen etwas entwickelt zu werden.
Der Zweck der schönen Künste macht es notwendig, dass uns Gegenstände vorgehalten werden, die uns interessieren, die unsere Aufmerksamkeit fesseln und denn die besondere ihrem Zweck gemäße Wirkung auf die Gemüter tun. Nun ist zwischen den in der Natur vorhandenen Dingen und dem menschlichen Gemüt eine so genaue Harmonie als zwischen dem Element, darin ein Tier zu leben bestimmt ist und dem Bau seines Körpers: die Natur hat unsere Sinnen und die Empfindsamkeit daraus alle Begierden entstehen, nach den in der Schöpfung vorhandenen Gegenständen, die uns interessieren sollten, genau abgepasst; und wir haben kein Gefühl als für die Dinge, die von der Natur selbst für uns gemacht sind. Will man uns also durch die Kunst rühren, so muss man uns Gegen stände vorlegen, welche die Art und den Charakter der natürlichen haben. Je genauer der Künstler dieses erreicht, je gewisser kann er die gesuchte Wirkung von seinem Werk erwarten.
Daraus folgt nicht nur, dass er uns nichts schimärisches, nichts phantastisches, der Natur wiederstreitendes vorlegen soll; sondern dass auch die nach der Natur gebildeten Gegenstände ganz natürlich sein müssen, um die völlige Wirkung zu tun. Sie müssen uns täuschen, dass wir ihre Wirklichkeit zu empfinden vermeinen. Kinder kann man dadurch rühren, dass man die Hände vor das Gesicht hält und sich anstellt als ob man weinte; aber erwachsene Menschen würden dabei den Betrug bald merken. Diese zu täuschen erfordert eine genauere Nachahmung des Weinens.
Daher geschieht es gar oft, besonders im Schauspiel, dass der Mangel des Natürlichen, er komme von dem Dichter oder von der schlechten Vorstellung des Schauspielers, eine der abgezielten gradeentgegenstehende Wirkung tut, dass man lacht, wo man weinen sollte und verdrießlich wird, wo man sollte lustig sein. So sehr kann der Mangel des Natürlichen die gute Wirkung der künstlichen Gegenstände vernichten. Es geschiehet in dem Leben nicht selten, dass bei einer betrübten Szene ein einziger unschicklicher und unnatürlicher Umstand Lachen erweckt: wieviel leichter muss dieses bei bloß nachgeahmten Szenen dieser Art geschehen? Darum erfordert das Drama, vornehmlich die höchste Natur sowohl in der Handlung selbst als in der Vorstellung, da der geringste unnatürliche Umstand alles so leicht verderbt.
Aber auch ohne Rücksicht auf die der Natur des Gegenstandes angemessene Wirkung, hat das Natürliche an sich eine ästhetische Kraft, wegen der vollkommenen Ähnlichkeit. Ein Gegenstand der in der Natur keines Menschen Aufmerksamkeit nach sich ziehen würde, kann durch die Vollkommenheit der Nachahmung in der Kunst ausnehmend Vergnügen, wovon wir anderswo den Grund gezeigt haben.1 Da das Interesse des Künstlers erfordert, dass sein Werk gefalle, so muss er es auch deswegen natürlich machen.
Aber höchst schwer ist dieser Teil der Kunst: denn in den meisten Fällen hänget das, was eigentlich dazu gehört, von so kleinen und in einzeln beinahe so unmerklichen Umständen ab, dass der Künstler selbst nicht recht weiß, wie er zu verfahren hat. So wußte jener griechische Maler nach vielen vergeblichen Versuchen nicht, wie das Schäumen eines in Wut gesetzten Pferdes natürlich vorzustellen sei und der Zufall, da er aus Verdruss den Pinsel gegen das Gemälde warf, bewirkte, was er durch kein Nachdenken zu erreichen vermögend gewesen. Die völlige Erreichung des Natürlichen scheint allerdings das schwerste der Kunst zu sein.
In Handlungen die sich zur epischen und dramatischen Poesie schicken, wird die Verwicklung und allmähliche Auflösung oft durch eine Menge kleiner Umstände bestimmt, die zusammengenommen, das Ganze bewirken. Läßt der Dichter einen davon weg oder setzt er einen falschen, an die Stell eines wahrhaften, so wird alles unnatürlich. Oft aber, wenn er alles, was zur Natur der Sache gehört, anbringen will, wird er schwerfällig oder verworren. Darum ist es so sehr schwer im Drama das Natürliche in Anlegung der Fabel und Entwicklung der Handlung zu erreichen. Eine Menge französischer Schauspiele werden gleich vom Anfang schwer und verdrießlich; weil man die Bemühung des Dichters gewahr wird, uns verschiedenes bemerken zu lassen, wodurch das folgende natürlich werden sollte. Es ist nicht genug, dass im Drama alles da sei, was die Folge der Handlung bestimmt; es muss auf eine ungezwungene Weise da sein. Dieses wußten Sophokles und Terenz am vollkommensten zu veranstalten. Euripides aber wird nicht selten durch die Ankündigung des Inhalts in den ersten Szenen unnatürlich.
Auch in den Charakteren, Sitten und Leidenschaften ist das Natürliche oft ungemein schwer zu erreichen. Entweder sind gewisse charakteristische Züge für sich schwer zu bemerken oder es ist schwer sie, ohne steif zu werden, zu schildern. Darum gelingen auch vollkommen natürliche Schilderungen dieser Art nur großen Meistern. Unter unseren einheimischen Dichtern kenne ich außer Wielanden keinen, dem die natürliche Schilderung dieser sittlichen Gegenstände so vollkommen gelinget; doch will ich weder Hagedorn noch Klopstocken noch Geßnern ihr Verdienst hierin streitig machen. In Leidenschaften ist Shakespear vielleicht von allen Dichtern der glücklichste Schilderer. Überhaupt aber können in Absicht auf das Natürliche in allen Arten der dichterischen Schilderungen die Alten, vornehmlich Homer und Sophokles als vollkommene Muster vorgestellt werden. In zärtlichen Leidenschaften aber steht Euripides keinem nach.
Wir können diesen Artikel nicht schließen, ohne vorher eine wichtige hier einschlagende Materie zu berühren. In sittlichen Gegenständen gibt es eine rohere und eine feinere Natur; jene herrscht unter Völkern bei denen die Vernunft sich noch wenig entwickelt hat; diese zeigt sich in sehr verschiedenen Graden nach dem Maße nach welchem die Künste, Wissenschaften, die Lebensart und die Sitten, den Einfluss einer langen Bearbeitung erfahren haben. In der rohen sittlichen Natur liegt mehr Stärke; die Leidenschaften eines Hurons sind weit heftiger, seine Unternehmungen kühner als sie in ähnlichen Umständen bei einem Europäer sind. So sind auch Homers Krieger in ihren Handlungen heftiger und in ihren Reden nachdrücklicher als man jetzt unter uns ist. Seit kurzem scheinen einige deutsche Dichter und Kunstrichter es zur Regel zu machen, jene rohere Natur, wegen ihrer vorzüglichen Energie zu poetischen Schilderungen vorzuziehen. Dagegen haben wir schon an einem anderen Ort2 einige Erinnerungen vorgebracht. Hier merken wir noch an, dass überhaupt ein Dichter den besonderen Zweck seines Werks wohl zu überlegen hat, um die Wahl der Gegenstände danach zu bestimmen. Ist es seine Absicht bloße Schilderungen zu machen, die durch die Stärke der natürlichen Empfindungen rühren sollen; so mag er immer den Stoff aus der rohesten Natur nehmen: wir werden seine Schilderungen mit Vergnügen sehen und sie werden uns zu verschiedenen Betrachtungen über die menschliche Natur Gelegenheit geben; so wie die Erzählungen der Reisebeschreiber die unter die wildesten Völker geraten oder in die ausserordentlichsten Unglücksfälle gestürzt worden sind, uns in Erstaunen setzen und mancherlei Betrachtungen veranlassen. Wir werden solche Gedichte lesen, wie wir die Schilderungen eines Homers, Oßians und Theokrits lesen. Aber so bald der Dichter nicht bloß interessant, sondern nützlich sein will; so muss er bei der Natur bleiben, wie sie sich jetzt unter uns zeigt. Es ist schwerlich abzusehen, was für einen Nutzen ein Drama auf einer europäischen Schau bühne haben könnte, dessen handelnde Personen Caraiben oder Huronen in ihrer wahren, höchst kräftigen Natur wären. Zum unterricht für den Philosophen, der gerne den Menschen in seiner rohesten Natur vollkommen gut geschildert zu sehen wünschet, könnte das Werk allerdings dienen. Aber dieses liegt außer dem Zweck der schönen Künste.
Ich weiß wohl, dass man die französischen Tragödiendichter durchgehends darüber tadelt, dass sie griechischen Helden französische Sitten und Charaktere geben. Aber ihre Trauerspiele würden darum noch nicht besser sein, wenn sie einen Agamemnon und andre Personen aus jener Zeit nach der Wahrheit schilderten. Der Fehler liegt in der Wahl des Stoffs selbst, der sich für Frankreich und für die Sitten des Landes nicht schickt. Je mehr eine Nation ihre Sitten durch Vernunft und Geschmack verfeinert hat, je mehr müssen auch die Werke der Kunst diese Stimmung haben, wenn sie einen der Kunst anständigen Zweck erreichen sollen.
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1 S. Ähnlichkeit.
2 S. Nachdruck.