Notwendig

Notwendig. (Schöne Künste) In jedem Werke das in bestimmter Absicht unternommen und mit Überlegung verfertigt worden, sind einige Teile notwendig, weil ohne sie der Zweck desselben nicht erreicht werden und das Werk das nicht sein würde, was es sein soll; andere Teile aber sind bloß zufällig und bestimmen entweder die besondere Art, wie der Zweck erreicht wird oder sie bewirken einige Nebeneigenschaften desselben. Bei einer Uhr ist alles, was die Richtigkeit des Ganges befördert, notwendig; aber die besondere Anordnung der Teile, die Form, die Größe, die Ziehrlichkeit der Uhr und andere Dinge, sind zufällig.

Die Werke des Geschmacks sind in ihrem Ursprunge betrachtet, oft mehr Äusserungen der unüberlegten Empfindung, der Begeisterung oder der Laune als der Überlegung; der Künstler wird lebhaft von einem Gegenstand gerührt; seine ganze Seele wird davon entflammet, er fühlt sich so voll von Empfindungen und Betrachtungen, dass er durch Gesang, Tanz, Rede oder durch andere Mittel die Fülle seiner Empfindungen an den Tag legt. Dabei scheint also keine Wahl, kein Nachdenken über das, was notwendig oder zufällig ist, statt zu haben.

Aber insofern die Werke des Geschmacks nicht bloß natürliche Äußerungen, sondern Werke der Kunst sind, hat allerdings Überlegung dabei statt; und schon der Name der schönen Künste zeigt an, dass man ihre Werke nicht bloß für Wirkungen des Naturells, nicht für bloße Ergießungen des empfindungsvollen Herzens halte, ob sie es gleich in ihrem Ursprung sind und zum Teil auch in ihrer Verfeinerung noch sein müssen. Die Werke der bloßen Empfindung werden nicht eher für Werke der schönen Kunst gehalten als nachdem das was die Empfindung eingibt, durch die Überlegung auf einem Zweck gerichtet und unter den Dingen, die Empfindung und Phantasie an die Hand gegeben haben, eine Wahl getroffen worden.

 Darum hat auch jedes Werk der schönen Künste wesentliche oder notwendige und auch zufällige Teile. Von jenen hängt eigentlich die Vollkommenheit ab, von diesen die Schönheit, Annehmlichkeit und andere mehr oder weniger wichtige Eigenschaften desselben. Deswegen muss der vollkommene Künstler ein Mann von Verstand und Überlegung sein, der das Notwendige seines. Werks durch ein richtiges Urteil erkennt. Wo etwas von dem Notwendigen fehlet, da ist das Werk im Ganzen mangelhaft, wie schön oder angenehm es auch sonst im ubrigen sein mag: es gleicht einer Uhr, die bei aller Zierlichkeit unrichtig geht. Je mehr gute Nebendinge zusammenkommen, um ein Werk, dem es am Wesentlichen feh let, angenehm zu machen, je mehr ist der Mangel des Notwendigen zu bedauren. Bei Erfindung und Anordnung der Teile muss der Künstler genau das Notwendige von dem Zufälligen unterscheiden. Auf jenes muss er zuerst sehen und wenn er alles getan hat, was dazu gehört; denn kann er auf das Zufällige denken. So verfuhr Raphael bei Erfindung und Anordnung seiner Gemälde, wie wir anderswo durch das, was Mengs von ihm angemerkt, gezeigt haben.1 Wir haben schon anderswo angemerkt, dass die Erfindung auch in Werken des Geschmacks durch Erkenntnis der Mittel, die zum vorgesetzten Zweck führen, bewirkt werde und dass dieses allemal ein Werk des Verstandes sei. Die reichste und lebhafteste Einbildungskraft allein, reicht zum vollkommenen Künstler nicht hin; denn das Notwendige wird nur vom Verstand erkennt. Bei dem Überflus an Schönheit, die von der Phantasie und der Empfindung abhangen, kann ein Werk, bei dem das Notwendige nicht genugsam überlegt worden, sehr große Fehler haben. Dann gleicht es schönen Trümmern, wo man einzelne Teile von vortreflicher Schönheit antrifft, von denen man aber nicht recht weiß, wozu sie gedient haben.

Man hat aber nicht nur bei der Erfindung der Teile des Werks, sondern auch bei Darstellung oder dem Ausdruck und der Bearbeitung desselben, das Notwendige vor Augen zu haben. Der Redner muss dieses zuerst tun, indem er die Gedanken erfindet und ordnet, die zum Zweck führen; danach muss er auch wieder so verfahren, wenn er auf den Ausdruck denkt, wobei der genaue und bestimmte Sinn das Notwendige, der Wohlklang und andere Schönheiten das Zufällige sind. Auch so gar in Nebensachen ist immer etwas das notwendig und etwas das zufällig ist; weil auch die Nebensachen einen Zweck haben. Darum ist kein Teil des Werks, der nicht den Einfluss der Beurteilung nötig hätte. Der Künstler und der Kunstrichter müssen beide, jener bei der Ausarbeitung, dieser bei Beurteilung des Werks über jeden einzelnen Teil die Frag aufwerfen, warum oder zu welchem Ende er da ist und daraus das Notwendige desselben beurteilen. Dieses wird gar oft versäumt und daher entstehen gar viel Unschicklichkeiten in den Werken der Kunst und Unrichtigkeiten in Beurteilung derselben. Es kann nicht zu oft wiederholt werden, dass Künstler und Kunstrichter sich dadurch am besten zu ihrem Berufe vorbereiten, dass sie mit gleichem Fleiße sich im strengen methodischen Denken und im richtigen und feinen Empfindungen durch fleißige Übung festsetzen.

 

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1 S. Anordnung. S. 63 . auch Gemälde S. 450 .

 


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