Das ist so allgemein bekannt ...
Die Neue Freie Presse hat sich zum erstenmal in ihrem Leben dazu hinreißen lassen, auf einen Angriff zu reagieren. Der Abgeordnete Viktor Adler hatte von ihr gesagt, sie sei das energischeste und gefährlichste Regierungsblatt. Darauf brachte sie, am 28. April, eine Erklärung, die von so sprudelndem Witz und von so hinreißender Phantasie zeugt, dass sie von der ›Fackel‹ nicht totgeschwiegen werden darf. Sie lautet:
(Die Neue Freie Presse ist ein vollständig unabhängiges Blatt, das in allen Fragen des öffentlichen Lebens seine gänzlich unbeeinflußbare Überzeugung zum Ausdruck bringt und vertritt. Das ist so allgemein bekannt, dass es überflüssig wäre, ein weiteres Wort darüber zu verlieren. Es hat noch keine Regierung in Österreich und in der ganzen Monarchie gegeben, die das Recht gehabt hätte, der Neuen Freien Presse ihre Haltung vorzuschreiben. Die Neue Freie Presse ist nach bestem Gewissen bemüht, den öffentlichen Interessen und dem Publikum zu dienen, aber sonst niemandem. Anmerkung der Redaktion.)
Die Neue Freie Presse hat mir mit dieser Erklärung, die sie an meinem Geburtstag erscheinen ließ, eine große Freude bereitet. Es heißt zwar wirklich Pauschalien in die Neue Freie Presse tragen, wollte man heute noch an ihrer Unbestechlichkeit zweifeln. Aber so ein offenes Wort nach jahrzehntelangem Schweigen tut wohl. Man wußte es ja schon längst, dass sie vollständig unbeeinflußbar sei, aber niemand hatte es ihr bisher nachweisen können, und jetzt sind die letzten Zweifel geschwunden. Man munkelt nicht mehr, sie sei ein hochanständiges Blatt, der Bann ist gebrochen und über Österreich hat sich nach diesen aufklärenden Worten eine so heitere Stimmung verbreitet, dass die Neue Freie Presse selbst sich über die Ruhe wunderte, mit der man überall dem Kometen entgegensah. Jetzt weiß sie den Grund. Der ganze Humor in der Kometennacht war nur ein Vorwand. Man war seit Wochen so gut aufgelegt, dass man einander in den Bauch stieß und »Schnipfer!« sagte, sobald einer im Kaffeehaus nur die Neue Freie Presse verlangte. Und der Satz: »Das ist so allgemein bekannt, dass es überflüssig wäre, ein weiteres Wort darüber zu verlieren«, hat Flügel bekommen und wurde zum Refrain eines Lachkuplets in der Art, wie sie früher beliebt waren. Wenn einer jetzt zum Beispiel sagt: Ja, der Cook hat den Nordpol entdeckt, oder: Die Dokumente im Friedjung-Prozeß sind echt — so antwortet man nur mehr: Das ist so allgemein bekannt usw. Der Satz schlägt jeden Gassenhauer, und als kürzlich in einem Nachtcafé ein Sänger weit das Maul aufriß, um das schlichte Volkslied »Das ist mein Freund, der Löbl« zu singen, ließ man ihn nicht, denn kaum hatte die Musik eingesetzt und er die Worte: »Das ist —« herausgebrüllt, da fiel der Chor der Besucher donnerähnlich ein: »Ja das ist so allgemein bekannt, dass es überflüssig wäre, ein weiteres Wort darüber zu verlieren!«
Mai, 1910.