Lebensform und Dichtungsform


Von Otto Stoessl

 

Die Dichtung, in welcher sich das äußere und innere Leben der Menschen als in einer geistigen Zusammenfassung wiederfindet, entspricht in ihren Grundformen den Organisationen des Daseins selbst. Sie ist gleichsam ein Reflex der menschlichen Gebilde, durch deren bedeutende Erscheinung hervorgerufen, von einem erregbaren Geiste aus einem unwillkürlichen Empfängnisvorgang zu einem bewußten Schöpfungsakt umgewertet. Es handelt sich immer um eine individuelle Antwort auf ringsumwirkende Anreize. Die Welt als gemeinsame Erscheinung geht durch ein persönliches, einziges Wesen — den Dichter — sinnlich, doch vergeistigt hindurch und wird als Antwort sich selbst, erneut und geordnet rückerstattet. Wie aber das Auge nur einen begrenzten Teil der Außenwelt als Bild erfaßt, so empfängt auch der schöpferische Geist immer nur mit einem begrenzten Teil der unermeßlichen äußeren Welt ihren bestimmenden Gesamteindruck. Ein Einzelwille schaltet das Ungemäße schon bei der Aufnahme aus, zieht das Ansprechende heran. Die schließliche Antwort: das dichterische Werk enthält alle nach persönlicher Notwendigkeit und Willkür geordneten Eindrücke in einer persönlichen Aussage, deren Form selbst wieder den objektiven Inhalt subjektiv herausstellt. So wird der Stoff erst bei der unmittelbaren Aufnahme, dann bei der Wiedergabe, gleichsam zweifach geläutert.

Die Notwendigkeit der Aufnahme wird durch die notwendige Begrenzung des Aufnehmenden, das Schicksal der Aussage durch deren geheimnisvolle Willkür begründet. Diese zwiefachen Bindungen bedeuten ebensoviele Freiheiten, wie denn der wahrhafte Geist jede Notwendigkeit zur Freiheit steigert. Das Erhabene der ineinanderwirkenden Bedingtheiten liegt darin, dass durch solche Ausschaltung und Einschränkung das schließliche Bild nicht verkleinert, sondern erweitert wird. In der engsten Form und dem scheinbar geringsten Gegenstande bleibt doch immer das Ganze der Welt beschlossen, erkannt, wiedergeboren. Ja dieses Ganze besteht ohne schöpferische Wiedergabe überhaupt nur als unfaßbares Chaos und wird erst durch die eingrenzende Formung zum Ganzen, ein Nebelschleier verdichtet sich — der Name des »Dichters« bezeichnet sein Tun — zum Sterne, schwebende Schatten werden Gestalten, die vorübergleitende Menge wird zur Menschheit, Ereignisse werden Schicksale, Begebenheiten und Gefühle entwachsen Gesetzen. Dichtung gibt Einheit aus Fülle.

Man erkennt, dass in gewissem Sinne stets Form auf Form antwortet und dass dem Gegebenen immer der verwandte Geist bereit ist, den es erfüllt und der es, als wunderbare Kelter, empfängt und zurückgibt.

Den drei Urformen der Poesie: Lyrik, Drama, Epos entsprechen drei wesentliche menschliche Zustände und Eindrucksgebiete. Das Ich, der Einzelne in seiner Sonderung, Standfestigkeit und kosmischen Selbstsicherheit, die Familie, als erste Verbindung, sowohl gegensätzlicher, als verwandter Elemente zu einer Frucht, die platzend, neue Samen zu neuen Gesellungen ausschüttet, schließlich die Gemeinde, der Stamm, die Nation, der Staat, oder wie immer man die höhere Zusammenfassung von Menschengruppen zu schicksalhaften Gebilden abgrenzen will. Diesen drei Urprinzipien der erdbewohnenden Menschheit geben die zugehörigen schaffenden Geister als Antwort ihr Bild und Gleichnis zurück.

In der Dichtung wird aus der Lebensform die poetische ausgereift und jede enthält auf ihre Weise, in ihrer Sprache und mit ihren Darstellungsmitteln das Ganze der Welt, so wie diese im einzelnen Menschen, in der Familie und im Staate durchaus enthalten ist.

Zuerst und zuletzt steht immer der Einzelne, der schicksalhafte Mensch, als gebundener Teil, als wirkende Einheit, bestimmt und bestimmend. Gefühl und Vernunft antworten aus ihm dem brausenden Ungefähr ringsum. Das ist das Lied: ein Echo der Stimmen, ein Wiederschein des Lichtes, die Sprache wird das einzige Maß der Dinge, sie behält die Instinktnatur einer unwillkürlich dem Eindruck entgegengestreckten, wehrenden, flehenden oder preisenden Geberde. Aber die unentrinnbare Gemeinschaft des menschlichen Lebens gewinnt in dieser Aussage eine einzige Veredelung zur Besonderheit. Die lyrische Form wehrt alle Gemeinschaft ab, indem sie ihr unterliegt, sie gibt sich ihr so mächtig hin, dass das Gemeinsame gleichsam in der Umarmung erdrückt wird. Das lyrische Gedicht als gewaltiges Lautwerden von menschlichen Urinstinkten behält in dem stöhnenden Zwang seiner Fassung, deren Rhythmus die Notwendigkeit des gehenden Pulses hat, die erste und letzte, tiefste Vereinzelung des Menschen. Seine äußerste Einsamkeit redet sozusagen von den Grenzen der Welt her zu dem Meere von Einsamkeit ringsum. Es ist die unbedingteste, zügelloseste Freiheit im Zwang dieser Aussage, bis auf den Klang und Rhythmus wird alles äußere, materielle, durchaus verinnerlicht. Nur dass das Gedicht auf dem Weg über Gefühl und Leidenschaft seinen Inhalt völlig vergeistigt, macht es zu einer Weisheit, deren Organ, um mich des Ausdrucks eines vornehmen Autors *) zu bedienen, im Herzen wohnt. Gelegentlich nähert sich diese bis auf Rufweite der Erkenntnis des Denkers selbst. An jener Quelle der Unterwelt, wo die Schatten vom Blute trinkend, Leben gewinnen, trifft diese Dichtung mit der Philosophie zusammen, welche, vom Blute trinkend, wiederum der Poesie ähnlich wird. Überhaupt enthält die Lyrik, wie ihr Lebensvorbild, das Individuum, alle Schicksale der Menschheit, alle Möglichkeiten und Schicksale der Dichtung als in einem Keime. Denn aus dem Gedichte, aus dem Wortgesange des bewegten, einsamen Gemütes haben sich alle anderen Formen entwickelt, wie aus den Einzelnen alle Gesellschaften.

Die zweite Organisationsform: die Familie findet im Drama ihr Gleichnis.

Das Drama vereinigt, wie die Familie, eigentümliche und notwendig verschwisterte Gegensätze. Sein Inhalt: die endgültige Austragung der einander bedingenden und darum einander mit der Energie chemischer Wahlverwandtschaften suchenden, naturgegebenen Konflikte wird mit der Unmittelbarkeit direkter Aussage und Gegenrede der verstrickten Charaktere herausgestellt. Dieses leibhaftige Gegenübertreten der Einzelnen, deren jeder sein Ich in Worten durchführt, welche den feindlichen Individuen das Ihrige entlocken und aus dem wirkenden Zwiegespräch Tat, Schicksal, neue Vereinzelung und neue Verbrüderung erzeugen, vergegenwärtigt den poetischen Ursprung aus der lyrischen Äußerung des Individuums. So trägt ja die Familie auch ihre höchstpersönliche Entstehung aus gegensätzlichen und verwandten Einzelnen an der Stirne geschrieben. Sie wird erschaffen, um in kämpfender Fruchtbarkeit neue Menschen hervorzubringen. Diese Vereinigung wird nur um der Loslösungen willen bewirkt. Das ist der vornehmliche Gegenstand des Dramas. Wenn man seine typischen und in ewiger literarischer Wiederkehr abgewandelten, sozusagen exegetisch durchgebildeten Stoffe beobachtet, wird man unschwer ihren familienhaften Grundcharakter erkennen. Historische und politische Probleme spielen nur begleitend mit und treten in den engeren Kreis einer familienhaften Gesellschaft, wie denn die Geschichte selbst menschheitliche Geschicke und Bewegungen in einem begrenzten Felde sinnfällig macht, als ob sie Taten und Erlebnisse einer einzigen schöpferischen Person oder kleiner Organisationen wären. Eigentümlich ist dem Drama wie der Familie auch vor allem die Restlosigkeit der völlig ausgetragenen Gegensätze. In dieser Organisationsform macht die Natur sozusagen immer für die Zukunft reinen Tisch.

Nun ist aber auf der weiten Erde bei dem endlosen Krieg aller gegen alle nicht bloß die tragische Vernichtung, vielmehr ein schließlich duldsames und notwendiges Nebeneinander zu Hause. Über der Vereinigung, Ablösung und Erneuerung der Einzelnen in der Familie mit ihrer dramatischen Folgerichtigkeit steht die fruchtbare epische Läßlichkeit der Gesamtheit. Die Natur produziert in Fülle und überantwortet ihre Geschöpfe dem Ungefähr. Das Gerettete und Lebensfähige schließt sich zusammen ohne genaue Prüfung der Lebenswürdigkeit. So entstehen übergeordnete Verbände und Gemeinschaften, erst als Notdach, welches dem Menschen gegen den Menschen Schutz verleiht, dann als schöpferisch ausgestalteter Bau, der Zusammengehörigen eine gewisse Würde und sinnvolle Eintracht der Existenz gewährt. Was einer großen Anzahl von Menschen an wesentlichen Instinkten, Anlagen, Kräften gemeinsam ist, überwindet ihr Widersprechendes, sie lernen einer höheren Ordnung dienen, um der eigenen Natur schöner, sicherer leben zu können. Ein geheimes Zusammengehörigkeitsgefühl siegt über die Vereinzelung. Das Bewußtsein der Menschheit erwacht im Menschen. Der Staat ist seine Schöpfung, das Epos sein dichterischer Ausdruck.

Hier spricht der Einzelne nicht mehr direkt, sondern das Ganze redet aus dem Einzelnen, auch wenn er von ihm redet. Mag der epische Stoff ein besonderes Schicksal, Entwicklung einer Persönlichkeit, Ereignisse einer Familie oder eines begrenzten Personenkreises behandeln, das allgemeine Nebeneinander, die großartige Einwirkung der ganzen Umwelt auf die Zustände der beobachteten Menschen, eine politische Natur waltet immer vor. Was geschieht und berichtet wird, bleibt auf die zeitliche Form der bestimmenden Gesamtheit bezogen. Der dargestellte Inhalt erscheint als Gleichnis einer gegebenen, umfassenden Organisation. So erzählt jede epische Dichtung Geschichte. Sie ist repräsentativ. Die zunehmende Annäherung der nationalen Kulturen infolge der technischen Vervollkommung hat mit der Ausgleichung und demokratischen Herabminderung der politischen Besonderheiten die Dichtung um ihre unmittelbare Wirkung gebracht. Sie steht ihren Menschen nicht mehr Aug’ in Aug’ gegenüber. Diesem Schaden der verlorenen Unmittelbarkeit der epischen Kunst steht ein Gewinn an Verinnerlichung und Erhöhung des schöpferischen Selbstgefühles gegenüber. Das politische Gewissen des epischen Dichters empfindet den Staat nicht mehr als erhabene und erhöhende Einheit, sondern als mechanisiertes Chaos, als sinnlos stampfende Maschine, welche das bißchen Erdenraum wie eine Walze ebnet. Aber selbst diese Verneinung wird durch die politische Artung des epischen Geistes ausgewertet, indem Kritizismus zum Pathos, Satire zur Gestaltung, Skepsis und Humor zu einem neuen Lebensinhalte anwachsen. Das Vorwiegen individueller Probleme, die Verinnerlichung der epischen Handlung, die Entdeckung eines vorherrschenden geistigen Lebens, welches an Stelle sinnlich leuchtender physischer Existenz getreten ist, bezeichnen die eigentümliche politische Natur des Epischen, sie widersprechen ihr nicht.

Unsere Zeit erlebt eine mähliche Umgestaltung des Staates. Die individuellen politischen Einzelgebilde, welche vordem, familienhaft eng abgegrenzt, dramatisch sinnfällige Schicksale tragisch kurzlebig austrugen weichen mehr und mehr ungeheuren Verbänden, deren äußere Vorgänge typisch und endlos, langweilig und mechanisch scheinen. Dabei tritt aber die willentliche Verinnerlichung des Einzelwesens und der Teilorganisationen in strenger Vergeistigung hervor. Die Geschichte wird zu einer wachsenden Gestaltung des inneren Lebens. Der Vergeistigung der Geschichte antwortet die Verinnerlichung der epischen Kunst. Was die Politik als Instinkt erlebt und zeigt, vergegenwärtigt das Wesen des Erzählers als schöpferische Macht. Geschichte machen und Geschichte schreiben, die höchste Lust und Gabe des menschlichen Geistes, bleibt Sache des seltenen Einzelnen, für den die ganze Welt Mittel und Gegenstand seines persönlichen Willens ist, unerschöpflich an Abenteuern und Aufgaben, ein immer erneutes Nichts und Chaos, aus dem immer wieder ein strahlendes Etwas und Ganzes zu bilden ist. So führt die Natur in verschleierter Vereinfachung auf tausend Umwegen alles Geschaffene auf den Schöpfer, alle Gemeinschaft auf den Einzelnen zurück, als ob sie ihm allein dienen wollte, der herrschen darf.

 

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*) »Prinz Hamlets Briefe«, Reichl & Comp., Verlag Berlin MCMIX.

 

 

Nr. 294/295, XI. Jahr

31. Januar 1910.


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