Na denn Prost!


Herr Georg Reimers, der den Sommer in Wyk auf Föhr verbringt und im Winter im Burgtheater Helden spielt, hat soeben sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum gefeiert. Nicht als Kurgast. Es sind vielmehr schon fünfundzwanzig Jahre, dass das Burgtheater sich in der Darstellung der Egmont und Moor von jeder mittleren deutschen Hofbühne beschämen lassen muß. Wie die Zeit vergeht! Damals alterte Fritz Krastel, ohne alt werden zu können, und der Gigant Matkowsky, der einmal als Orestes aushalf, fuchtelte so über den Rahmen des Burgtheaters hinaus, dass das Wiener Publikum zu lachen anfing. Aber Herrn Georg Reimers nahm es schon ernst. Freilich wurden dann von allen Seiten die lebhaftesten Anstrengungen gemacht, ihm zu einer Entwicklung zuzureden, und Herr Reimers, dessen Stärke es bis dahin gewesen war, fest aufzutreten, begann jetzt in der Tat die Brauen zusammenzuziehen und ein denkender Schauspieler zu werden. Nicht in jener übertriebenen Art des Herrn Gregori, dem man vom Faust bloß die Versicherung geglaubt hat, dass er Juristerei, Philosophie, Medizin und Theologie studiert habe. Aber immerhin mit mäßiger Vertiefung des Innenlebens. Man las sogar hin und wieder, dass Herr Reimers mit dem Studium von Kommentaren beschäftigt sei — nachdenkende Schauspieler sind solche, die lesen können, was literarhistorische Schöpse geschrieben haben —, aber man freute sich doch immer, dass dann jedesmal seine kerngesunde Natur durchbrach und er, wie er dem Kulissenplauderer anvertraute, »die Folianten in die Ecke warf«, nur sich und seinem Instinkt vertrauend. Das war gut. Denn das Publikum war nicht entschlossen, mitzudenken, sondern lobte den stattlichen Wuchs. Man sieht in Wien überhaupt weniger auf den Zweck als auf die schönen Mittel, und wer hier behaupten wollte, dass sie nicht hinreichen, dass fünfundzwanzig Jahre ohne tragischen Helden für das Burgtheater kein Jubiläum, für das Publikum einen Verlust bedeuten, der kann sich unbeliebt machen. Denn die Schauspieler dieser Stadt gehören zu den Erscheinungen, die ihrer Beliebtheit ihre Popularität verdanken und umgekehrt, und nur zu leicht gerät der in den Verdacht, ein Thersites zu sein, der etwa behaupten wollte, ein anderer sei kein Achill. So feministisch verzogen ist der Geschmack dieser Stadt, dass ihm die schönen Mittel des Schauspielers den Mann verbürgen, aber beileibe nicht etwa die schönen Mittel der Frau die Schauspielerin, dass man der weiblichen Anmut das Talent, das sie bedeutet, nicht glaubt, aber der männlichen Schönheit den Charakter. Diese Ästhetik ergibt sich dem Tenor und sieht auf die Salondame mit den Augen der Rivalin. Dass einer, um eine deutsche Eiche auf der Bühne zu sein, im Leben aus Pappe sein könnte, und dass einer auf der Bühne aus Pappe sein kann und im Leben eine deutsche Eiche, das geht der Wiener Ästhetik, die eine weibliche Wissenschaft ist, nicht ein, und sie feiert immer die fünfundzwanzigjährige Identität von Kunst und Leben. Nun aber, da Herr Reimers in das gesetzte Alter eintritt, werden wir auch keinen Wallenstein und keinen Faust haben, und wer weiß, welche Überraschungen er uns noch vorbehält, denn Herr Wittmann meint, es sei nur ein Anfang. »Wir können dem Fünfzigjährigen die Mitteilung machen, dass die wahre Schauspielerei erst für ihn beginnt.« Herr Reimers hat Reserven. Eine zweite Entwicklung, die er durchmachte, ging geradenwegs auf die Schlichtheit. Von der Natur dazu geschaffen, Herolde im Burgtheater darzustellen, begann er auf einmal in einem gleichmütigen Plauderton zu spredien, der von Herrn Wittmann heute als eine Konzession an Ibsen entschuldigt wird. Herr Wittmann empfindet es noch jetzt als eine Profanierung des gutgebauten Herrn Reimers, dass in die Zeit seiner Entwicklung auch der Aufstieg Ibsens fiel, und da das Wort Ibsen einmal ausgesprochen ist, so ergibt sich der Gedanke, dass damals »Gestank etwas Natürliches war«, von selbst. Es ist aber leicht möglich, dass nicht so sehr Ibsen für die naturalistische Wendung des Herrn Reimers verantwortlich zu machen ist als die Aufmunterung durch den alten Baumeister, der dem jüngeren Kollegen öfter Prost, mein Junge! zugerufen haben soll, worauf dieser sich vornahm, »nachzukommen«. Aus solchen, durch die Theaterplauderer verbreiteten Erzählungen entstand nun die Vorstellung von dem prädestinierten Nachfolger Baumeister, und um diese nicht zu enttäuschen, entschloß sich Herr Reimers, hin und wieder auf der Bühne leise und fließend zu sprechen und sogar Sätze ganz fallen zu lassen. Einen aber hat er jetzt gebracht, indem er nämlich mit anspruchsloser Natürlichkeit in die Zeitung schrieb: »Ich höre vielfach, dass man mich für den prädestinierten Nachfolger Baumeisters hält. Möglich.« Und da es nun außer Zweifel ist, dass Herrn Reimers das Herz auf der Zunge liegt und dass er bald »biderb« sein wird, kam ihm auch ein Interviewer ins Haus, der endlich herauskriegen wollte, wie Herr Reimers das denn eigentlich mache, dass er es immer zuwege bringe, so gesund, so natürlich, so geradezu zu sein. Und Reimers antwortete nicht anders, als man erwartet hatte: »Es ist weiter nichts dabei, dass ich so bin, dass ich nirgends und vor niemandem mit dem zurückhalte, was ich denke, es ist gar kein Verdienst bei meiner Offenheit — ich fürchte mich nicht und vor keinem Menschen, weil meine Natur so ist, das ist alles.« Und er würde sich, »wie er lachend sagt, wenn's ginge, am liebsten auch von schwarzem Brot und Speck nähren. Sein gewöhnliches Nachtmahl besteht auch wirklich aus Schwarzbrot mit Butter und einigen Schnitten Wurst, auf warme Nachtmähler ist er nicht eingerichtet«. Welche Schlichtheit! Das schreit ja förmlich nach dem Götz und Erbförster! »Was natürlich nicht ausschließt, dass er es auch mit dem alleranspruchsvollsten ›warmen‹ Souper als wackerer Kumpan tapfer aufnimmt — vorausgesetzt, dass es kein ›trockenes‹ Souper ist.« Welcher Humor! Falstaff! Na denn, Kinder, wollen wir doch nicht so trocken da sitzen, Prost Doktorchen! ... Durch acht Tage klang jetzt in Wien das Lied vom braven Mann. Das ist er wahrscheinlich, wenngleich es uns nichts angeht und Herr Reimers sichs verbitten müßte, dass ihm Presse und Publikum es bestätigen. Ich würde es nämlich ertragen, dass ein Schauspieler ein Fallot wäre, wenn er sich nur verpflichtet, anständig zu spielen. Er kann sich aushalten lassen, er kann lügen, ja meinetwegen können uns von ihm sogar die genossenschaftlichen Bestrebungen des Herrn Nissen gestohlen werden. Auf das Soziale wird gepfiffen. Herr Reimers nun bekam unter anderm vom Vizegouverneur der Bodenkreditanstalt eine Sophokles-Büste und von einem anderen Verehrer Verse von Paul Wilhelm. Aber es wäre für alle Teile besser, er hätte, zuverlässig wie er ist, fünfundzwanzig Jahre lang die Bodenkreditanstalt geleitet, Verse von Sophokles erhalten und eine Paul Wilhelm-Büste. Man muß kein Bewunderer des armen Kainz sein, um zu fühlen, welcher Entgeistigung jetzt das arme Burgtheater entgegengeht.

 

 

September, 1910.


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