Das Schicksal der Maschine
Von Ludwig Rubiner
Es gibt Dinge, mit denen niemand etwas zu tun hat, und auf die jeder stolz sein will. Zum Beispiel auf Erfindungen, die andere machen. Früher war man Zeitgenosse, was längst veraltet ist. Heute ist man Stimmungselement der Entwicklung. Geistesströmer.
Es ist doch so: Menschen, die eine Erfindung machen, stehen vor dem ekstatisch Momentanen und der verzückten Spontanität ihrer Idee immer wieder als vor einem unbegreiflichen Wunder. Dabei sind sie stets von neuem erstaunt, dass nicht andere Leute auch auf die grundlegende und typische Einfachheit ihrer Gedankengänge gekommen sind. Hier regt sich die Unverschämtheit des Geistesströmers und Hintergrundmoleküls. Wie — die Sache ist so einfach, dass sie ein anderer auch hätte machen können? Gut, dann wäre ja am Ende sogar der Geistesströmer darauf verfallen? — was soviel bedeutet als: Der Nebenmann und Routinier macht sein Anrecht auf die Leistung geltend! Es lebe die Entwicklung! Selbstverständlich ist die Hoffnung auf unentwegte, treue und stramme Entwicklung der neue kindliche Glaube von den Weltanschauung-Salons des Proletariates bis zu den ästhetisch-humanitären Comptoirs der modernen Bourgeoisie; eine kindliche Hoffnung, auch einmal Teil an etwas zu haben, für das man nicht kann. Also geniert man sich immer noch, sozusagen aus Sicherheitsgründen, in verschämter Öffentlichkeit, wo doch jeder den Lohn für sein massenhaftes Auftreten haben will, zuzugeben, dass die wunderbaren Versprechungen der Fachmänner von der Entwicklung der Technik einfach noch nie gehalten werden konnten. Es wäre naiv, zu glauben, dass einmal alle Leute, die nicht Techniker sind, ungeduldig werden müssen, wenn jene so durchdringend und hochtrabend wiederholten Versicherungen nicht aufhören wollen: die technische Evolution gipfele nächstens einmal in einer pompösen Zukunft.
Immerhin vermag keiner von allen den glückseligkeitsstrotzenden Fachmännern auch nur zu sagen, welchem Ziele die Änderungen in der Konstruktion einer Maschine zustreben. Noch fraglicher erscheint es sogar, ob überhaupt ein solches Ziel da ist. Als der Phonograph erfunden wurde, erwartete man natürlich von den folgenden Jahren eine ungeheure Veränderung im Charakter des Apparates, genau wie zwanzig Jahre später vom Kinetoskopen. Aber diese Instrumente sind auch in ihren substilsten Vollendungen noch, des Grammophons und des Kinematographen, unter die Äußerungsfähigkeiten gebannt geblieben, die sie in der Stunde ihres ersten Erscheinens hatten. Es sind Vergnügungsautomaten geblieben, und die geringen und gezwungenen Anwendungen solcher Maschinen in den Wissenschaften bedeuten nur langwierige Umwege gegenüber der zugleich analytischen und synthetischen Auffassungsfähigkeit des Menschen. Ähnlich wie die Anwendung der Mathematik in der Psychologie auch nur rein tautologische Bestätigungen ergibt.
Natürlich zweifelte vor fünfzig Jahren kein gebildeter Mensch daran, dass wir heute auf »Flügeln des Dampfes fliegen« würden! Aber man darf feststellen, dass seit James Watt die Arbeitsgebiete der Dampfmaschine sich gar nicht verändert haben, sondern dass nur die Leistungen potenziert wurden; schon vor Fulton trieb doch Dionys Papin ein Dampfschiff — übrigens Daten einer billigen Gelehrsamkeit, die sich jeder aus dem Konversationslexikon holen kann. — Ebenso natürlich zweifelte zu Daguerres Zeiten kein Mensch daran, dass die Photographie selbstverständlich einst die Malerei ablösen werde. Nun, darüber hat man sich in den letzten Jahren genügend ausgesprochen. Dagegen ist der ursprüngliche Charakter der Photographie, nämlich die mechanische Reproduktion, zur Massenhaftigkeit gesteigert worden.
Die Dynamomaschine und das Telephon, die Bogenlampe und die Schreibmaschine sind nur immer detaillierter und komplizierter durchkonstruiert worden, und das Grundmoment ihrer Verwendung ist immer gleichartiger durch die Massenverbreitung erhalten geblieben.
Aber die Aeronautik — — Entwicklung des Ballons zur Flugmaschine! — Gerade bei der Aeronautik können Unbefangene und Unaufgeregte am deutlichsten erkennen, dass es in der Technik keine Entwicklung gibt. Der Ballon hat sich seit den hundert Jahren seiner ersten Konstruktion nicht verändert. Schon an den allerersten Ballons hat man ja versucht, Flügelruder und Steuer anzubringen; das »Reichsluftschiff«, der »Parseval«, Engländer, Franzosen sind wie vor hundert Jahren jedem Zufall schutzlos ausgesetzt. Diese »Lenkbaren«, ganz gleich ob »starr« oder »unstarr«, können bei Sturm nicht fahren, und mit ihren Größenmassen stehen sie in einem lächerlich ungleichen Verhältnis zu dem Raum, den sie transportieren können. Glück, Tod und Ziel sind heute gerade so unbestimmbar wie vor hundert Jahren. Aber der Ballon hat sich nun nicht auch zur Aeroplan-Flugmaschine »entwickelt«, sondern die Flugmaschine »Schwerer als die Luft« (Lexikon!) beruht auf einer vollständig anderen und relativ neuen Idee, die mehr als unabhängig von den Prinzipien des Ballons ist. Nun ist aber der Charakter des Aeroplans als eines Versuchsapparates und Sport- oder Schauobjektes bereits erwiesen, und es ist unzweifelhaft, dass eine Flugmaschine der Zukunft, die große Gepäcklasten und viele Personen befördern kann, aus einem wiederum vom gewohnten völlig verschiedenen, neuen, noch ungeahnten Gebiet der Idee und der Prinzipien konstruiert werden wird.
Die Elektrisiermaschine kann seit den dreihundert Jahren ihrer Grundkonstruktion durch Otto von Guericke auch nichts anderes, als Papierbüschel in Bewegung setzen und den Blitz imitieren.
Element, Akkumulator und Dynamo sind nicht Entwickelungsstadien der alten Elektrisiermaschine, sondern Erfindungen aus überraschend verschiedenen Ideengebieten, die das Prinzip der Elektrizität nur etwa gerade so gemeinsam haben, wie die Dramen Shakespeares und die Dramen Racines den Untergrund menschlicher Gefühle.
Es ist manchmal wunderbar gut, Laie zu sein. Man steht außerhalb der Grenzen eines Faches und überschaut diese jenseitigen Dinge nach dem bloßen Vergnügen oder dem bloßen Nutzen. Unverwirrt durch Begeisterung für Spezialkenntnisse sieht man: Es gibt keine Entwicklung der Maschine. Der Maschine kann es gar nicht widerfahren, dass sie sich, gleichsam durch allmähliches Ankristallisieren, erweitert, Form und Bau verändert und eines Tages unmerklich etwas ganz anderes geworden ist. Nein, die Maschine wird in die Welt hineingesetzt, gleich fertig in ihrem ganzen Umriß und Charakter. Da kann nur noch verfeinert und gesteigert werden, aber die qualitativen Attribute sind schon von Anfang an entschieden.
Die Maschine ändert ihren Charakter nicht. Das Automobil hat sich nicht aus dem Fahrrad entwickelt, sondern es repräsentiert eine völlig neue Ideenreihe.
An der Maschine erkennt man unerhört klar, was Prädestination ist. Das ganze Leben der Maschine und der Maschinengeschlechter ist nur darauf gerichtet, den Grundtypus jeder einmal gefundenen Struktur für alle Ewigkeit aufs leistungsfähigste zum Ausdruck gelangen zu lassen. Sobald der Grundtypus einer Maschine sich verändert, zeigt es sich, dass die neue Struktur nicht eine Entwicklung der alten ist, sondern ein neues Maschinenwesen mit ganz anderen und neuen Aufgaben, und aus einer ganz neuen Ideen-Ebene und einer anderen Kategorie.
Das Schicksal der Maschine ist, nur einmal zu sein. Und dieses Einmal kann sehr lang oder sehr kurz dauern. Aber das ist auch das Schicksal ihrer Ideen.
Hier enthüllt sich endgültig die ganze Fragwürdigkeit einer Entwicklung der Technik. Denn es gibt keine Entwicklung der Idee. Die Idee steht auch ganz außerhalb einer Wertbemessung. Jede Idee ist wie jede andere ein vollkommenes Individuum, ein Abgegrenztes. Das Schicksal der Idee liegt in ihrem vollkommenen Ausdruck.
Entwicklung der Technik anzunehmen ist eine hypothetische Behauptung, die sofort von der bloßen Beobachtung entlarvt wird.
Nun scheint es aber, als sei bei dieser Behauptung auf die Wirklichkeit und Erweislichkeit der Tatsachen gar kein besonderer Wert gelegt, und als solle eine »Entwicklung der Maschine« gar kein Dogma sein, sondern nur der halb zufällig und unklar erfaßte Ausdruck für eine Stimmung. Beim Überblicken jenes schwer und nur unscharf zu erfassenden Komplexes sich kreuzender und scheinbar mischender alter und neuer Ideen tritt die ungewisse Stimmung des Fließenden auf, und sie wird der ganzen Gruppenreihe der Ideen als wahrhaftig historisches Geschehen unterschoben. Man deutet diese sehr subjektive Stimmung eines unscharf vorüberlaufenden Momentes in eine unscharfe Geschichte des Objektes um, und man konstruiert aus der augenblicklichen Gemütswirkung der Ideen eine Entwicklung ihrer Objekte.
Zweifeln wir nicht — die Hypothese der Entwicklung verwirrt uns. Sie scheint jedesmal ein neues Ziel zu suchen, wenn wir bei den neuen Wirkungen neuer Ideen stehen.
Aber die Ideen fallen auf uns wie die Meteorsteine. Und innerhalb der Ideen, deren jede wie ein eigener Weltkörper ist, erscheinen die Maschinen. Es ist das vorbestimmte Schicksal der Maschine, knarrend, ächzend oder lautlos, nur in ihrer bloßen Tätigkeit zu zeigen, dass sie die höchste Leistung und der stärkste Ausdruck ihrer Idee ist, bis man sie nicht mehr braucht.
Nr. 294/295, XI. Jahr
31. Januar 1910.