"Rhabarber"


Ich erhalte die folgende Zuschrift:

Das wohltuende Abführmittel murmelnden Gemunkels sollten Komödianten allein verabreichen dürfen? Wir Literaten sind doch auch da! Und wenn man an Lebenden nur mit Vorsicht rhabarbert, so schmeckt es bei Toten noch besser. Solch literarisches Leichengift spendete kürzlich der bekannte Freigeist aus der bajuvarischen Walhalla, Herr Michael Georg Conrad. Er kramte in alten Briefmappen und suchte schriftliche Übungen des seligen Hartleben hervor, den er höchst zärtlich schildert als ein »weiches Gemüt« von »vornehmer Denkungsart«, die sich leider an »allerlei Plebejismen im literarischen Leben stieß«. Aber Conrad stößt sich nicht daran, alle Schimpfereien des zartbesaiteten Otto Erich gegen Andere als Wahrheitsevangelium der Öffentlichkeit mitzuteilen. Den auf rein persönlichen Ursachen beruhenden Schwatz bietet er als klassischen Beitrag zur literarhistorischen Wahrheit an, obschon jeder Vernünftige derlei einseitiges Gemunkel eben nur als »Rhabarber« genießen sollte. Und einen saftigen setzt Conrad vor, indem er feierlich den »Invektivenhagel« berichtet, den H. in zwei Briefen gegen mich gerichtet habe. Er schmatzt vor Behagen: »Der Brief eignet sich noch nicht zur Veröffentlichung wegen überdeutlicher Hinweise auf noch lebende Personen«. Wer Beleidigungen eines Toten gegen einen Lebenden ausspielt, macht sich dafür verantwortlich. Aber C. scheut sich auch nicht, einen Gifterguß des Toten gegen den toten Hermann Conradi wörtlich zu rhabarbern: er sei eine »geistig, gemütlich, leiblich mißgeborene Persönlichkeit« gewesen, außerdem »feige und niederträchtig«. Nun, auch der Schimpfheilige schloß ja lange den hurtigen Mund und wir achten die Ruhe der Toten. Weswegen H. den unglücklichen Conradi »feige und niederträchtig« nannte, darüber wollen wir schweigen. Wie würde es H.'s Freunden gefallen, wenn ich einen Stoß Briefe Conradis über ihn veröffentlichen wollte, worin die schlimmsten Injurien unseres geliebten Deutsch als abschließende Urteile stehen? Wenn aber ein Toter verunglimpft wird durch einseitigen Klatsch eines Toten, der nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden kann, so verspreche ich dafür Herrn M. G. Conrad, der ja noch jüngst laut Briefs eines Bekannten sich mit so viel Liebe und Treue unserer einstigen Bruderschaft erinnerte, dass noch vor meinem Tode dokumentäre Aufklärung über alle »jüngstdeutsche« Literaturentwicklung erscheinen soll, vielleicht etwas anders, als dem Grundsatz Mundus vult decipi beliebt. Nie aber werde ich mich herbeilassen, Verleumdungen aus Privatbriefen der Neugier preiszugeben. Ein Conradi stand denn doch zu hoch über einem literarischen Vertreter des Bierulks, als dass man solche Verschiebung des »Pathos der Distanz« dulden dürfte! Die damalige Sturm- und Drangperiode forderte freilich von Jedem ethische Opfer. Aber den auf der literarischen Tafel eingeführten Rhabarber weisen wir zurück!

Zürich.

Karl Bleibtreu

 

 

Nr. 294/295, XI. Jahr

31. Januar 1910.


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