Eine wahre Athletengestalt
Unter jenen Geistern, die von der Schweiz aus Brücken bauen und Fäden knüpfen, nimmt der Ludwig Bauer unstreitig den breitesten Raum ein. Wiewohl er schon vermöge seiner Statur berufen wäre, den Weltkrieg zu entscheiden, wenn die Staaten sich dazu entschließen könnten, Vorkämpfer an die Fronten zu schicken, wählt er mit offizieller Bewilligung das schriftliche Verfahren, und wiewohl man sich sehr gut denken kann, dass er allein mit der Brussilowschen Offensive fertig werden möchte, da man doch sogar von unbewaffneten Epheben gehört hat, die mit kühnem Handstreich, bauend auf die Macht ihrer Persönlichkeit, einen russischen Schützengraben auszuheben imstande waren, scheint er die Rolle des Achilles im Stadium der Zurückgezogenheit vorzuziehen. Die Erscheinung des Ludwig Bauer, verglichen mit der kleinen Schweiz, weckt ein gewisses Mitgefühl für die Wehrlosigkeit dieses neutralen Staates. Denn sie ist in derart überlebensgroßen Dimensionen gehalten, dass neben ihr so manche, die dem Vaterlande ihre Freiheit, wenn nicht ihr Leben zum Opfer bringen müssen, wie der Knirps auf jener Illustration wirken, die das Größenverhältnis der österreichisch-ungarischen und der montenegrinischen Armee veranschaulicht. Dieser Bauer ist vielleicht einer der espritvollsten Feuilletonisten, die wir haben, aber eben einer, der durch die epische Breite seiner Gestalt den Rahmen des Genres zu sprengen scheint. Als er mir einst am nächtlichen Himmel der Ringstraße — vor dem Krieg — als Riesensilhouette erschien, einem daneben schreitenden Schauspieler von sonst stattlichem Wuchs sichtlich ein Drama einredend, war es plötzlich, als ob er den Begleiter verschlungen hätte und nunmehr alles Mitteilenswerte und zur Förderung seiner Absichten Dienliche in sich hineinreden müßte. So ist der Bauer gebaut. Und um das Bild einer durchaus offensiven Erscheinung vollständig zu machen, soll sein Bart jener Haarsack sein, mit dem die Apokalypse die schwarze Sonne beim Weltuntergange vergleicht, in jedem Fall mehr danach angetan, die Feinde zu schrecken als die Neutralen zu gewinnen. Man weiß nun, dass ich sehr unter den erbitternden Kontrasten dieser Kriegszeit leide, und ich komme so schwer darüber hinweg, dass manche Schwache und Schweigende daran glauben mußten, während die geborenen Protagonisten der Vierwaldstättersee anlächeln und zum Bade laden darf. Schwer komme ich über diese Gegensätze hinweg. Aber trotz dem gerade an das Privatrecht leiblicher Verfügung greifenden Ernst der Zeit und wiewohl in der Epoche der Musterungen der Hinweis auf körperliche Vorzüge gewiß kein Eingriff ins Privatleben mehr ist, ja trotz der Ungleichheit einer Strenge, die gerade den ungeistigsten Menschen, den Feuilletonisten, Ausnahmen zubilligt, würde ich die Erörterung der Wehrfähigkeit eines Staatsbürgers für unpassend halten; umso mehr, als man nie wissen kann, ob nicht hinter der robusten Außenseite ein Siechtum verborgen ist, das seit Kriegsausbruch die Kur von Schweizer Korrespondenzen durchmachen muß und einen Schreibfähigen, der den Balkankrieg noch als Sudler mitgemacht hat, selbst von der Verpflichtung enthebt, dem Vaterland als Angehöriger eines Kriegspressequartiers zu dienen. Aber wenn man der Schweiz das Recht zubilligen muß, sich die Leute näher anzusehen, die wir ihr als Vertreter unserer politischen Interessen und sozusagen unseres Geisteslebens zugestellt haben, so wollen wir wahren Patrioten, die wir uns mehr im Tadel als im Lob vaterländischer Sitten beweisen, dieses Recht vor allem haben und wollen davon schrankenlosen Gebrauch machen, wenn die Individualitäten, als deren Landsleute dahinzuleben, wenn nicht dahinzuzusterben wir verurteilt sind und denen es vergönnt ist, in der Welt weiter herumzukommen als wir und uns einen Ruf zu machen, den wir nicht berichtigen können, wenn diese Individualitäten also den breiten Raum, den sie ohnedies einnehmen, auch noch durch Vordringlichkeit vergrößern und sich auf eine ungebührliche Art der Betrachtung präsentieren. (Man beachte, wie die Umfänglichkeit dieses Satzes dem Übermaß der Erscheinung gerecht wird, und wie anderseits der Satzbauer gerade hier einmal den Vorwurf Lügen straft, dass er sich nur mit Kleinigkeiten abgebe.) Der Ludwig Bauer veröffentlicht also in der ›Neuen Zürcher Zeitung‹, die ohnedies nicht durchaus von uns begeistert ist, sogenannte Satiren, und ohne mit einem Sterbenswort zu verraten, dass der Verfasser selbst einer kriegführenden Nation angehört, mit einer neutralen Selbstvergessenheit, die einem zähen Eidgenossen Ehre machen würde, stellt er eine »Galerie sonderbarer Zeitgenossen« zusammen, indem er sich über die Typen gesunder Drückebergerei, denen er auf seinen Schweizer Fahrten begegnet sein will, lustig macht. Dadurch könnten sich wohl jene Schweizer, die Herrn Bauer noch vom Stier von Uri unterscheiden können, und vor allem die eingeweihten österreichischen Leser zu einem musternden Blick auf die Gestalt des Autors berechtigt fühlen. Man würde doch annehmen, dass ein Schreiber, dem man ja als Privatperson jenen Selbstschutz zubilligen würde, den man jeder Kreatur hienieden gönnt, auch wenn er wertvollem Mitbürgern nicht gegönnt war, mindestens von dem Thema, an dem die eigene Person in jedem Falle und so auffallend wie hier beteiligt ist, die Feder lassen müßte. Tut er anders, so müßte man ihm doch so viel Selbstbesinnung zutrauen, die eigene Person vor Verwechslung mit seinem Satirenstoff zu bewahren und vorweg die Umstände anzugeben, die sie von der »Galerie sonderbarer Zeitgenossen« ausschließen. Der Bauer aber, voraussetzend, dass man »Ja Bauer! das ist ganz was andres« sage, schreibt:
Von all den Männern, die zu schwerhörig sind, um in der Schweiz den Ruf ihres Vaterlandes zu vernehmen, hat fast jeder seine Besonderheit: der eine ist ein politischer Märtyrer, der zweite deutet geheimnisvoll an, dass eine hochwichtige politische Mission ihn hier zurückhalte, der dritte ist dazu da, dem zweiten entgegenzuarbeiten —
Und von einem spricht Herr Bauer ausführlich:
Er sieht äußerst beruhigend aus, eine wahre Athletengestalt. Da er den Kriegführenden angehört — oh, nicht er persönlich, doch sein Vaterland! —, so ist es weiter nicht erstaunlich, wenn verwunderte, zweifelhafte oder verächtliche Blicke ihn streifen oder gar die Frage sich in unzarten Worten zusammenballt ...
Da es in der Schweiz keinen Spiegel zu geben scheint, wohl aber Zeitungen, die so etwas abdrucken, so kann der Grund der Publikation nur in einer neutralitätswidrigen Absicht zu suchen sein: den Schweizern zu zeigen, welcher Art die Kriegführenden sind, dass sie Federführende solcher Art der Schweiz überlassen, und wie wünschenswert es für diese wäre, den Zuzug unsicherer Kantonisten fernzuhalten.
April, 1917.