Ich stoß dir die Augen aus!


— — Ein derartiger Fall von Kutscherroheit wird uns in der folgenden Zuschrift mitgeteilt. Es heißt darin: »Ein überschwer mit Baumstämmen beladener, für eine Fabrik in der Laxenburgerstraße bestimmter Wagen blieb in der genannten Straße in der Nähe der Troststraße im Kot stecken. Dafür rächte sich der Kutscher dadurch, dass er unter dem Ruf ›Ich stoß dir die Augen aus!‹ mit der Spitze des Peitschenstockes das eine der Pferde wiederholt in das Auge stieß. Mit welchem Erfolge er dieses Verfahren an den ihm unterstellten Tieren schon früher in Anwendung gebracht hat, ließ die leere Augenhöhle des zweiten Pferdes vermuten. Ich habe den Vorfall, um dessen Bekanntgabe ich Sie im Interesse der Abstellung derartiger Unglaublichkeiten höflichst bitte, dem Tierschutzverein zur Anzeige gebracht. Für die buchstäbliche Wahrheit des Vorfalles verbürgt sich hochachtungsvoll Dr. Heinrich Röttinger, Kustos der Albertina.« Der Militärkommandant von Berlin hat kürzlich eine strenge Verwarnung gegen derartige Tierquäler ergehen lassen und hat darauf hingewiesen, dass die Pferde, welche doch zumeist »Kriegsgut« ziehen, mit der größten Schonung behandelt werden müßten. Auch bei uns hat die Sicherheitswache den Auftrag, jede Mißhandlung von Tieren sofort abzustellen und gegen Tierquäler mit der Anzeige vorzugehen. Wie der vorliegende Fall zeigt, erwecken Tiere auch das Mitgefühl des Publikums und dessen dankenswertes Eingreifen zum Schutze der Tiere.

In Berlin werden die Pferde geschont, weil sie zumeist Kriegsgut ziehen, was schon an und für sich einer schonenden Behandlung gleichkommt; in Wien erwecken sie das Mitgefühl des Publikums und dessen dankenswertes Eingreifen in Form von Beschwerden, die ja insoweit einen tierfreundlichen Effekt haben, als sie für die Katz' sind. Das noch dankenswertere Eingreifen, dass man nämlich den Kutscher auf der Stelle mit demselben Peitschenstock, nicht etwa Aug' um Auge, sondern so behandelt, dass er tot liegen bleibt, ist nicht zu erwarten. Dass die, welche tatlos solcher Tat assistieren, vermehrte Blutschuld auf sich nehmen, spürt hier keiner. Dieser Mangel an Vehemenz, der letzten Endes doch ein Mangel an Verantwortungsgefühl ist, fühlt sich geborgen unter einer obrigkeitlichen Gerechtigkeit, deren Gewissen durch eine einzige unbefugte Prostituierte noch immer leichter in Wallung kommt als durch hundert professionsmäßige Pferdeschinder. Wohl dem, der einst die Frage des höchsten Richters: »Wohin zuständig?« mit einem unbefangenen »Nach Wien!« wird beantworten können, ohne sich der Zeugenschaft gräßlichster Tierkämpfe anklagen zu müssen! Das leere Auge des Pferdes wartet irgendwo auf die Bestie, der Tiere »unterstellt« waren, doch es wird auch jene bleich machen, die hienieden nur so viel Mitleid hatten, um Akten und nicht Taten zu bewirken. Ein Peitschenstock aber ist unterwegs, um ein Auge des Gesetzes auszustoßen, das sehen und nicht erstarren konnte!

 

 

April, 1917.


 © textlog.de 2004 • 21.12.2024 13:55:15 •
Seite zuletzt aktualisiert: 15.01.2007 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright Die Fackel: » Glossen » Gedichte » Aphorismen » Notizen