VIII.4. Die Empfindungen und Triebe der Menschen sind allenthalben dem Zustande, worin sie leben, und ihrer Organisation gemäß; allenthalben aber werden sie von Meinungen und von der Gewohnheit regiert
Weiter will ich die Geschichte der Vereinzelung des Menschengeschlechts nicht fortsetzen; der Grund ist gelegt, daß mit den verschiednen Häusern und Familien auch neue Gesellschaften, Gesetze, Sitten und sogar Sprachen werden. Was zeigen diese verschiednen, diese unvermeidlichen Dialekte, die sich auf unserer Erde in unbeschreibbarer Anzahl, und oft schon in der kleinsten Entfernung, nebeneinander finden? Das zeigen sie, daß es die weitverbreitende Mutter nicht auf Zusammendrängung, sondern auf freie Verpflanzung ihrer Kinder anlegte. Kein Baum soll, soviel möglich, dem andern die Luft nehmen, damit dieser ein Zwerg bleibe oder, um einen freien Atemhauch zu genießen, sich zum elenden Krüppel beuge. Eignen Platz soll er finden, damit er durch eignen Trieb wurzelaus in die Höhe steige und eine blühende Krone treibe.
Nicht Krieg also, sondern Friede ist der Naturzustand des unbedrängten menschlichen Geschlechts; denn Krieg ist ein Stand der Not, nicht des ursprünglichen Genusses. In den Händen der Natur ist er (die Menschenfresserei selbst eingerechnet) nie Zweck, sondern hie und da ein hartes, trauriges Mittel, dem die Mutter aller Dinge selbst nicht allenthalben entweichen konnte, das sie aber zum Ersatz dafür auf desto höhere, reichere, vielfacher Zwecke anwandte.
Ehe wir also zum traurigen Haß kommen dörfen, wollen wir von der erfreuenden Liebe reden. Überall auf der Erde ist ihr Reich; nur allenthalben zeigt sie sich unter andern Gestalten.
Sobald die Blume ihren Wuchs erreicht hat, blüht sie; die Zeit der Blüte richtet sich also nach der Periode des Wuchses und diese nach der sie emportreibenden Sonnenwärme. Die Zeit der früheren oder späteren Menschenblüte hangt gleichfalls vom Klima ab und von allem, was zu ihm gehört. Sonderbar weit sind auf unserer kleinen Erde die Zeiten der menschlichen Mannbarkeit nach Lebensarten und Erdstrichen verschieden. Die Perserin heiratet im achten und gebiert im neunten Jahr; unsere alten Deutschen waren dreißigjährige Männinnen, ehe sie an die Liebe dachten.
Jedermann sieht, wie sehr diese Unterschiede das ganze Verhältnis der Geschlechter zueinander ändern mußten. Die Morgenländerin ist ein Kind, wenn sie verheiratet wird; sie blüht frühe auf und frühe ab; sie wird von dem erwachsneren Mann also auch wie Kind und Blume behandelt. Da nun jene wärmeren Gegenden die Reize des physischen Triebes in beiden Geschlechtern nicht nur früher, sondern auch lebhafter entwickeln: welcher Schritt war näher, als daß der Mann die Vorzüge seines Geschlechts gar bald mißbrauchte und sich einen Garten dieser vorübergehenden Blumen sammlen wollte. Fürs Menschengeschlecht war dieser Schritt von großer Folge. Nicht nur, daß die Eifersucht des Mannes seine mehreren Weiber in einen Harem schloß, wo ihre Ausbildung mit dem männlichen Geschlecht unmöglich gleich fortgehen konnte, sondern da die Erziehung des Weibes von Kindheit auf für den Harem und die Gesellschaft mehrerer Weiber eingerichtet, ja das junge Kind oft schon im zweiten Jahr verkauft oder vermählt wurde wie anders, als daß der ganze Umgang des Mannes, die Einrichtung des Hauses, die Erziehung der Kinder, endlich auch die Fruchtbarkeit selbst mit der Zeit an diesem Mißverhältnis teilnehmen mußte? Es ist nämlich genugsam erwiesen, daß eine zu frühe Heirat des Weibes und ein zu starker Reiz des Mannes weder der Tüchtigkeit der Gestalten noch der Fruchtbarkeit des Geschlechts förderlich sei; ja, die Nachrichten mehrerer Reisenden machen es wahrscheinlich, daß in manchen dieser Gegenden wirklich mehrere Töchter als Söhne geboren werden, welches, wenn die Sache gegründet ist, sowohl eine Folge der Polygamie sein kann, als es wiederum eine fortwirkende Ursache derselben wurde. Und gewiß ist dies nicht der einzige Fall, da die Kunst und die gereizte Üppigkeit der Menschen die Natur aus ihrem Wege geleitet hätte; denn diese hält sonst ein ziemliches Gleichmaß in den Geburten beider Geschlechter. Wie aber das Weib die zarteste Sprosse unserer Erde und die Liebe das mächtigste Mobil ist, das von jeher in der Schöpfung gewirkt, so mußte notwendig die Behandlung derselben auch der erste kritische Scheidepunkt in der Geschichte unseres Geschlechts werden. Allenthalben war das Weib der erste Zankapfel der Begierden und seiner Natur nach gleichsam der erste brüchige Stein im Gebäude der Menschenschöpfung. -
Lasst uns z. B. Cook auf seiner letzten Reise begleiten. Wenn auf den Sozietäts- und andern Inseln das weibliche Geschlecht dem Dienst der Cythere eigen zu sein schien, so daß es sich nicht nur selbst um einen Nagel, einen Putz, eine Feder preisgab, sondern auch der Mann um einen kleinen Besitz, der ihn lüstete, sein Weib zu verhandeln bereit war, so ändert sich mit dem Klima und dem Charakter anderer Insulaner offenbar die Szene. Unter Völkern, wo der Mann mit der Streitaxt erschien, war auch das Weib verborgner im Hause; die rauhere Sitte jenes machte auch diese härter, daß weder ihre Häßlichkeit noch ihre Schönheit den Augen der Welt bloßlag. An keinem Umstande, glaube ich, läßt sich der eigentliche Charakter eines Mannes oder einer Nation so unterscheidend erkennen als an der Behandlung des Weibes. Die meisten Völker, denen ihre Lebensart schwer wird, haben das weibliche Geschlecht zu Haustieren erniedrigt und ihm alle Beschwerlichkeiten der Hütte aufgetragen; durch eine gefahrvolle, kühne, männliche Unternehmung glaubte der Mann dem Joch aller kleinen Geschäfte entnommen zu sein und überließ diese den Weibern. Daher die große Subalternität dieses Geschlechts unter den meisten Wilden von allerlei Erdstrichen; daher auch die Geringschätzung der Söhne gegen ihre Mütter, sobald sie in die männlichen Jahre treten. Frühe wurden sie zu gefahrvollen Übungen erzogen, also oft an die Vorzüge des Mannes erinnert, und eine Art rauhen Kriegs- oder Arbeitmutes trat bald an die Stelle zärtlicher Neigung. Von Grönland bis zum Lande der Hottentotten herrscht diese Geringschätzung der Weiber bei allen unkultivierten Nationen, ob sie sich gleich in jedem Volk und Weltteil anders gestaltet. In der Sklaverei sogar ist das Negerweib weit unter dem Neger, und der armseligste Karibe dünkt sich in seinem Hause ein König.
Aber nicht nur die Schwachheit des Weibes scheint es dem Mann untergeordnet zu haben, sondern an den meisten Orten trug auch die größere Reizbarkeit desselben, seine List, ja überhaupt die feinere Beweglichkeit seiner Seele dazu noch ein mehreres bei. Die Morgenländer z. B. begreifen es nicht, wie in Europa, dem Reich der Weiber, ihre ungemessene Freiheit ohne die äußerste Gefahr des Mannes stattfinden oder bestehen könne; bei ihnen, meinen sie, wäre alles voll Unruh, wenn man diese leicht beweglichen, listigen, alles unternehmenden Geschöpfe nicht einschränkte. Von manchen tyrannischen Gebräuchen gibt man keine Ursache an, als daß durch dies oder jenes Betragen die Weiber sich ehemals selbst ein so hartes Gesetz verdient und die Männer ihrer Sicherheit und Ruhe wegen dazu gezwungen hätten. So erklärt man z. B. den unmenschlichen Gebrauch in Indien, das Verbrennen der Weiber mit ihren Männern das Leben des Mannes, sagt man, sei ohne dieses fürchterliche Gegenmittel ihres eignen, mit ihm aufzuopfernden Lebens nicht sicher gewesen; und beinah ließe sich, wenn man von der verschlagnen Lüsternheit der Weiber in diesen Ländern, von den zauberischen Reizen der Tänzerinnen in Indien von den Kabalen der Harems unter Türken und Persern liest, etwas von der Art glauben. Die Männer nämlich waren zu unvermögend, den leichten Zunder, den ihre Üppigkeit zusammenbrachte, vor Funken zu bewahren, aber auch zu schwach und lässig, den unermeßlichen Knäuel zarter, weiblicher Fähigkeiten und Anschläge zu bessern Zwecken zu entwickeln; als üppig-schwache Barbaren also schafften sie sich auf eine barbarische Art Ruhe und unterdrückten die mit Gewalt, deren List sie mit Verstand nicht zu überwinden vermochten Man lese, was Morgenländer und Griechen über das Weib gesagt haben, und man wird Materialien finden, sich ihr befremdendes Schicksal in den meisten Gegenden heißer Klimate zu erklären. Freilich lag im Grunde alles wieder an den Männern, deren stumpfe Brutalität das Übel gewiß nicht ausrottete, das sie so ungelenk einschränkte, wie es nicht nur die Geschichte der Kultur, die das Weib durch vernünftige Bildung dem Mann gleichgesetzt hat, sondern auch das Beispiel einiger vernünftigen Völker ohne feinere Kultur zeigt. Der alte Deutsche, auch in seinen rauhen Wäldern, erkannte das Edle im Weibe und genoß an ihm die schönsten Eigenschaften seines Geschlechts, Klugheit, Treue, Mut und Keuschheit; allerdings aber kam ihm auch sein Klima, sein genetischer Charakter, seine ganze Lebensweise hierin zu Hülfe. Er und sein Weib wuchsen, wie die Eichen, langsam, unverwüstlich und kräftig; die Reize der Verführung fehlten seinem Lande; Triebe zu Tugenden dagegen gab beiden Geschlechtern sowohl die gewohnte Verfassung als die Not. Tochter Germaniens, fühle den Ruhm deiner Urmütter und eifre ihm nach: unter wenigen Völkern rühmt die Geschichte, was sie von ihnen rühmt; unter wenigen Völkern hat auch der Mann die Tugend des Weibes wie im ältesten Germanien geehrt. Sklavinnen sind die Weiber der meisten Nationen, die in solcher Verfassung leben; ratgebende Freundinnen waren deine Mütter, und jede Edle unter ihnen ist's noch.