IX.4. Die Regierungen sind festgestellte Ordnungen unter den Menschen, meistens aus ererbter Tradition

 

 Der Naturstand des Menschen ist der Stand der Gesellschaft; denn in dieser wird er geboren und erzogen, zu ihr führt ihn der aufwachende Trieb seiner schönen Jugend, und die süßesten Namen der Menschheit, Vater, Kind, Bruder, Schwester, Geliebter, Freund, Versorger, sind Bande des Naturrechts, die im Stande jeder ursprünglichen Menschengesellschaft stattfinden. Mit ihnen sind also auch die ersten Regierungen unter den Menschen gegründet: Ordnungen der Familie, ohne die unser Geschlecht nicht bestehen kann, Gesetze, die die Natur gab und auch durch sich selbst genugsam einschränkte. Wir wollen sie den ersten Grad natürlicher Regierungen nennen; sie werden immerhin auch der höchste und letzte bleiben.

 Hier endigte nun die Natur ihre Grundlage der Gesellschaft und überließ es dem Verstande oder dem Bedürfnis des Menschen, höhere Gebäude darauf zu gründen. In allen Erdstrichen, wo einzelne Stämme und Geschlechter einander weniger bedörfen, nehmen sie auch weniger teil aneinander; sie dachten also an keine großen politischen Gebäude. Dergleichen sind die Küsten der Fischer, die Weiden der Hirten, die Wälder der Jäger; wo auf ihnen das väterliche und häusliche Regiment aufhört, sind die weiteren Verbindungen der Menschen meistens nur auf Vertrag oder Auftrag gegründet. Eine Jagdnation z. B. geht auf die Jagd; bedarf sie eines Führers, so ist es ein Jagdanführer, zu dem sie den Geschicktesten wählt, dem sie also auch nur aus freier Wahl und zum gemeinschaftlichen Zweck ihres Geschäfts gehorcht. Alle Tiere, die in Herden leben, haben solche Anführer; bei Reisen, Verteidigungen, Anfällen und überhaupt bei jedem gemeinschaftlichen Geschäft einer Menge ist ein solcher König des Spiels nötig. Wir wollen diese Verfassung den zweiten Grad der natürlichen Regierung nennen: sie findet bei allen Völkern statt, die bloß ihrem Bedürfnis folgen und, wie wir's nennen, im Stande der Natur leben. Selbst die erwählten Richter eines Volks gehören zu diesem Grad der Regierung: die Klügsten und Besten nämlich werden zu ihrem Amt als zu einem Geschäft erwählt, und mit dem Geschäft ist auch ihre Herrschaft zu Ende.

 Aber wie anders ist's mit dem dritten Grad, den Erbregierungen unter den Menschen! Wo hören hier die Gesetze der Natur auf, oder wo fangen sie an? Daß der billigste und klügste Mann von den Streitenden zum Richter erwählt wurde, war Natur der Sache, und wenn er sich als einen solchen bewährt hatte, mochte er's bis in sein graues Alter bleiben. Nun aber stirbt der Alte, und warum ist sein Sohn Richter? Daß ihn der klügste und billigste Vater erzeugt hat, ist kein Grund; denn weder Klugheit noch Billigkeit konnte er ihm einzeugen. Noch weniger wäre der Natur des Geschäfts nach die Nation verbunden, ihn deshalb als solchen anzuerkennen, weil sie seinen Vater einmal aus persönlichen Ursachen zum Richter wählte; denn der Sohn ist nicht die Person des Vaters Und wenn sie gar für alle ihre noch Ungeborne das Gesetz feststellen wollte, ihn dafür erkennen zu müssen, und im Namen der Vernunft ihrer aller auf ewige Zeiten hin den Vertrag machte, daß jeder Ungeborne dieses Stamms der geborne Richter, Führer und Hirt der Nation, d. i. der Tapferste, Billigste, Klügste des ganzen Volks, sein und dafür der Geburt wegen von jedermann erkannt werden müßte, so würde es schwer sein, einen Erbvertrag dieser Art, ich will nicht sagen mit dem Recht, sondern nur mit der Vernunft zu reimen. Die Natur teilt ihre edelsten Gaben nicht familienweise aus, und das Recht des Blutes, nach welchem ein Ungeborner über den andern Ungebornen, wenn beide einst geboren sein werden, durchs Recht der Geburt zu herrschen das Recht habe, ist für mich eine der dunkelsten Formeln der menschlichen Sprache.

 Es müssen andere Gründe vorhanden sein, die die Erbregierungen unter den Menschen einführten, und die Geschichte verschweigt uns diese Gründe nicht. Wer hat Deutschland, wer hat dem kultivierten Europa seine Regierungen gegeben? Der Krieg. Horden von Barbaren überfielen den Weltteil; ihre Anführer und Edeln teilten unter sich Länder und Menschen. Daher entsprangen Fürstentümer und Lehne; daher entsprang die Leibeigenschaft unterjochter Völker; die Eroberer waren im Besitz, und was seit der Zeit in diesem Besitz verändert worden, hat abermals Revolution, Krieg, Einverständnis der Mächtigen, immer also das Recht des Stärkern entschieden. Auf diesem königlichen Wege geht die Geschichte fort, und Fakta der Geschichte sind nicht zu leugnen. Was brachte die Welt unter Rom, Griechenland und den Orient unter Alexander? Was hat alle große Monarchien bis zu Sesostris und der fabelhaften Semiramis hinauf gestiftet und wieder zertrümmert? Der Krieg. Gewaltsame Eroberungen vertraten also die Stelle des Rechts, das nachher nur durch Verjährung oder, wie unsere Staatslehrer sagen, durch den schweigenden Kontrakt Recht wurde; der schweigende Kontrakt aber ist in diesem Fall nichts anders, als daß der Stärkere nimmt, was er will, und der Schwächere gibt oder leidet, was er nicht ändern kann. Und so hängt das Recht der erblichen Regierung sowie beinah jedes andern erblichen Besitzes an einer Kette von Tradition, deren ersten Grenzpfahl das Glück oder die Macht einschlug und die sich hie und da mit Güte und Weisheit, meistens aber wieder nur durch Glück oder Übermacht fortzog Nachfolger und Erben bekamen, der Stammvater nahm; und daß dem, der hatte, auch immer mehr gegeben wurde, damit er die Fülle habe, bedarf keiner weitern Erläuterung; es ist die natürliche Folge des genannten ersten Besitzes der Länder und Menschen.

 Man glaube nicht, daß dies etwa nur von Monarchien, als von Ungeheuern der Eroberung, gelte, die ursprünglichen Reiche aber anders entstanden sein könnten; denn wie in der Welt wären sie anders entstanden? Solange ein Vater über seine Familie herrschte, war er Vater und ließ seine Söhne auch Väter werden, über die er nur durch Rat zu vermögen suchte. Solange mehrere Stämme aus freier Überlegung zu einem bestimmten Geschäft sich Richter und Führer wählten, so lange waren diese Amtsführer nur Diener des gemeinen Zweckes, bestimmte Vorsteher der Versammlung; der Name Herr, König, eigenmächtiger, willkürlicher, erblicher Despot war Völkern dieser Verfassung etwas Unerhörtes.

Entschlummerte aber die Nation und ließ ihren Vater, Führer und Richter walten, gab Sie ihm endlich gar, schlaftrunken- dankbar, seiner Verdienste, seiner Macht, seines Reichtums oder welcher Ursachen wegen es sonst sei, den Erbzepter in die Hand, daß er sie und ihre Kinder wie der Hirt die Schafe weide: welch Verhältnis ließe sich hiebei denken, als Schwachheit auf der einen, Übermacht auf der andern Seite, also das Recht des Stärkern. Wenn Nimrod Bestien tötet und nachher Menschen unterjocht, so ist er dort und hier ein Jäger. Der Anführer einer Kolonie oder Horde, dem Menschen wie Tiere folgten, bediente sich über sie gar bald des Menschenrechts über die Tiere. So war's mit denen, die die Nationen kultivierten: solange sie sie kultivierten, waren sie Väter, Erzieher des Volks, Handhaber der Gesetze zum gemeinen Besten; sobald sie eigenmächtige oder gar erbliche Regenten wurden, waren sie die Mächtigern, denen der Schwächere diente. Oft trat ein Fuchs in die Stelle des Löwen, und so war der Fuchs der Mächtigere; denn nicht Gewalt der Waffen allein ist Stärke; Verschlagenheit, List und ein künstlicher Betrug tut in den meisten Fällen mehr als jene. Kurz, der große Unterschied der Menschen an Geistes-, Glücks- und Körpergaben hat nach dem Unterschiede der Gegenden, Lebensarten und Lebensalter Unterjochungen und Despotien auf der Erde gestiftet, die in vielen Ländern einander leider nur abgelöst haben. Kriegerische Bergvölker z. B. überschwemmten die ruhige Ebne: jene hatte das Klima, die Not, der Mangel stark gemacht und tapfer erhalten; sie breiteten sich also als Herren der Erde aus, bis sie selbst in der mildern Gegend von Üppigkeit besiegt und von andern unterjocht wurden. So ist unsere alte Tellus bezwungen und die Geschichte auf ihr ein trauriges Gemälde von Menschenjagden und Eroberungen worden. Fast jede kleine Landesgrenze, jede neue Epoche ist mit Blut der Geopferten und mit Tränen der Unterdrückten ins Buch der Zeiten verzeichnet. Die berühmtesten Namen der Welt sind Würger des Menschengeschlechts, gekrönte oder nach Kronen ringende Henker gewesen, und was noch trauriger ist, so standen oft die edelsten Menschen notgedrungen auf diesem schwarzen Schaugerüst der Unterjochung ihrer Brüder. Woher kommt's, daß die Geschichte der Weltreiche mit so wenig vernünftigen Endresultaten geschrieben worden? Weil, ihren größesten und meisten Begebenheiten nach, sie mit wenig vernünftigen Endresultaten geführt ist; denn nicht Humanität, sondern Leidenschaften haben sich der Erde bemächtigt und ihre Völker wie wilde Tiere zusammen- und gegeneinandergetrieben. Hätte es der Vorsehung gefallen, uns durch höhere Wesen regieren zu lassen, wie anders wäre die Menschengeschichte! Nun aber waren es meistens Helden, d. i. ehrsüchtige, mit Gewalt begabte oder listige und unternehmende Menschen, die den Faden der Begebenheiten nach Leidenschaften anspannen und, wie es das Schicksal wollte, ihn fortwebten. Wenn kein Punkt der Weltgeschichte uns die Niedrigkeit unseres Geschlechts zeigte, so wiese es uns die Geschichte der Regierungen desselben, nach welcher unsere Erde ihrem größten Teil nach nicht Erde, sondern Mars oder der kinderfressende Saturn heißen sollte.

 


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