X.6. Fortsetzung der ältesten Schrifttradition über den Anfang der Menschengeschichte

 

 Gefallen meinem Leser die reinen Ideen dieser alten Tradition, die ich ohne Hypothese oder Verzierung dahingestellt habe, so lasst uns dieselbe verfolgen, wenn wir zuvor noch auf das Ganze dieses Schöpfungsgemäldes einen Blick geworfen haben. Wodurch zeichnet es sich vor allen Märchen und Traditionen der höheren Asiaten so einzig aus? Durch Zusammenhang, Einfalt und Wahrheit. So manchen Keim der Physik und Geschichte jene enthalten, so liegt alles, wie es durch die Übergabe der ungeschriebenen oder dichtenden Priester- und Volkstradition werden mußte, wild durcheinander, ein fabelhaftes Chaos wie beim Anfange der Weltschöpfung. Dieser Naturweise hat das Chaos überwunden und stellt uns ein Gebäude dar, das in seiner Einfalt und Verbindung der ordnungreichen Natur selbst nachahmt. Wie kam er zu dieser Ordnung und Einfalt? Wir dörfen ihn nur mit den Fabeln anderer Völker vergleichen, so sehen wir den Grund seiner reinern Philosophie der Erd- und Menschengeschichte.

Erstens. Alles für Menschen Unbegreifliche, außer ihrem Gesichtskreis Liegende ließ er weg und hielt sich an das, was wir mit Augen sehen und mit unserm Gedächtnis umfassen können. Welche Frage z. B. hat mehr Streit erregt als die über das Alter der Welt, über die Zeitdauer unserer Erde und des Menschengeschlechtes? Man hat die asiatischen Völker mit ihren unendlichen Zeitrechnungen für unendlich klug, die Tradition, von der wir reden, für unendlich kindisch gehalten, weil sie, wie man sagt, gegen alle Vernunft, ja gegen das offenbare Zeugnis des Erdbaues mit der Schöpfung wie mit einer Kleinigkeit dahineilt und das Menschengeschlecht so jung machte. Mich dünkt, man tue ihr hierin offenbar Unrecht. Wenn Moses wenigstens der Sammler dieser alten Traditionen war, so konnten ihm, dem gelehrten Ägyptier, jene Götterund Halbgötter-Aeonen nicht unbekannt sein, mit denen dieses Volk, wie alle Nationen Asiens, die Geschichte der Welt anfingen. Warum webte er sie also seinen Nachrichten nicht ein? Warum rückte er ihnen gleichsam zum Trotz und zur Verachtung die Weltentstehung in das Symbol des kleinsten Zeitlaufs zusammen? Offenbar, weil er jene abschneiden und als unnütze Fabel aus dem Gedächtnis der Menschen hinwegbringen wollte. Mich dünkt, er handelte hierin weise; denn jenseit der Grenzen unserer ausgebildeten Erde, d. i. vor Entstehung des Menschengeschlechts und seiner zusammenhangenden Geschichte, gibt es für uns keine Zeitrechnung, die diesen Namen verdiene. Lasst Buffon seinen sechs ersten Epochen der Natur Zahlen geben, wie groß er sie wolle, von 26000, von 35000, von 15-20000, von 10000 Jahren u. f.; der menschliche Verstand, der seine Schranken fühlt, lacht über diese Zahlen der Einbildungskraft, gesetzt, daß er auch die Entwicklung der Epochen selbst wahr fände, noch weniger aber wünscht das historische Gedächtnis sich mit ihnen zu beschweren. Nun sind die ältesten ungeheuren Zeitrechnungen der Völker offenbar von dieser buffonschen Art; sie laufen nämlich in Zeitalter, da die Götter- und Weltkräfte regiert haben, also in die Zeiten der Erdbildung hinüber, wie solche diese Nationen, die ungeheure Zahlen sehr liebten, entweder aus Himmelsrevolutionen oder aus halbverstandnen Symbolen der ältesten Bildertradition zusammensetzten. So hat unter den Ägyptern Vulkan, der Schöpfer der Welt, unendlich lange, sodann die Sonne, Vulkanus Sohn, 30000, sodann Saturn und die übrigen zwölf Götter 3984 Jahre regiert, ehe die Halbgötter und späterhin die Menschen folgten. Ein gleiches ist's mit den höhern asiatischen Schöpfungs- und Zeittraditionen. 3000 Jahre regierte bei den Parsen das himmlische Heer des Lichts ohne Feinde; 3000 folgten, bis die Wundergestalt des Stiers erschien, aus dessen Samen erst die Geschöpfe und am spätsten Meschia und Meschiana, Mann und Weib, entstanden. Das erste Zeitalter der Tibetaner, da die Lahen regierten, ist unendlich, das zweite von 80, das dritte von 40, das vierte von 20 Jahrtausenden eines Lebensalters, von denen dies bis zu 10 Jahren hinab- und denn allmählich wieder hinaufsteigen wird zum Zeitalter der 80000 Jahre. Die Perioden der Indier voll Verwandlungen der Götter und der Sineser voll Verwandlungen ihrer ältesten Könige steigen noch höher hinauf: Unendlichkeiten, mit denen nichts getan werden konnte, als daß Moses sie wegschnitt, weil sie nach dem Bericht der Traditionen selbst zur Erdschöpfung, nicht aber zu unserer Menschengeschichte gehören.

 Zweitens. Streitet man also, ob die Welt jung oder alt sei, so haben beide recht, die da streiten. Der Fels unserer Erde ist sehr alt, und die Bekleidung desselben hat lange Revolutionen erfodert, über die kein Streit stattfindet. Hier läßt Moses einem jeden Freiheit, Epochen zu dichten, wie er will, und mit den Chaldäern den König Alorus, das Licht, Uranus, den Himmel, Gea, die Erde, Helios, die Sonne, u. f. regieren zu lassen, solange man begehrt. Er zählt gar keine Epochen dieser Art und hat, um ihnen vorzubeugen, sein ineinandergreifendes, systematisches Gemälde gerade im leichtsten Zyklus einer Erdumwälzung dahingestellt. Je älter aber diese Revolutionen sind und je länger sie dauerten, desto jünger muß notwendig das menschliche Geschlecht sein, das, nach allen Traditionen und nach der Natur der Sache selbst, erst als die letzte Ausgeburt der vollendeten Erde stattfand. Ich danke also jenem Naturweisen für diesen kühnen Abschnitt der alten ungeheuren Fabel; denn meinem Fassungskreise gnügt die Natur, wie sie da ist, und die Menschheit, wie sie jetzt lebt.

 Auch bei der Schöpfung des Menschen wiederholet die Sage172, daß sie geschehen sei, da sie der Natur nach geschehen konnte. »Als auf der Erde«, fährt sie ergänzend fort, »weder Kräuter noch Bäume waren, konnte der Mensch, den die Natur zum Bau derselben bestimmt hatte, noch nicht leben; noch stieg kein Regen nieder, aber Nebel stiegen auf, und aus einer solchen mit Tau befeuchteten Erde wurde er gebildet und mit dem Atem der Lebenskraft zum lebendigen Wesen belebt.« Mich dünkt, die einfache Erzählung sagt alles, was auch nach allen Erforschungen der Physiologie Menschen von ihrer Organisation zu wissen vermögen. Im Tode wird unser künstliches Gebäu in Erde, Wasser und Luft aufgelöst, die in ihm jetzt organisch gebunden sind; die innere Ökonomie des animalischen Lebens aber hangt von dem verborgnen Reiz oder Balsam im Element der Luft ab, der den vollkommenern Lauf des Bluts, ja den ganzen innern Zwist der Lebenskräfte unserer Maschine in Bewegung setzt, und so wird wirklich der Mensch durch den lebendigen Odem zur regsamen Seele. Durch ihn erhält und äußert er die Kraft, Lebenswärme zu verarbeiten und als ein sich bewegendes, empfindendes, denkendes Geschöpf zu handeln. Die älteste Philosophie ist mit den neuesten Erfahrungen hierüber einig.

 Ein Garten war der erste Wohnsitz des Menschen, und auch dieser Zug der Tradition ist, wie ihn immer nur die Philosophie ersinnen könnte. Das Gartenleben ist das leichteste für die neugeborne Menschheit; denn jedes andere, zumal der Ackerbau, fodert schon mancherlei Erfahrungen und Künste. Auch zeigt dieser Zug der Tradition, was die ganze Anlage unserer Natur beweist, daß der Mensch nicht zur Wildheit, sondern zum sanften Leben geschaffen sei und also, da der Schöpfer den Zweck seines Geschöpfs am besten kannte, den Menschen, wie alle andere Wesen gleichsam in seinem Element, im Gebiet der Lebensart, für die er gemacht ist, erschaffen habe. Alle Verwilderung der Menschenstämme ist Entartung, zu der sie die Not, das Klima oder eine leidenschaftliche Gewohnheit zwang; wo dieser Zwang aufhört, lebt der Mensch überall auf der Erde sanfter, wie die Geschichte der Nationen beweist. Nur das Blut der Tiere hat den Menschen wild gemacht, die Jagd, der Krieg und leider auch manche Bedrängnisse der bürgerlichen Gesellschaft. Die älteste Tradition der frühesten Weltvölker weiß nichts von jenen Waldungeheuern, die als natürliche Unmenschen jahrtausendelang mordend umhergestreift und dadurch ihren ursprünglichen Beruf erfüllt hätten. Erst in entlegnen, rauheren Gegenden, nach weiten Verirrungen der Menschen fangen diese wilden Sagen an, die der spätere Dichter gern ausmalte und denen zuletzt der kompilierende Geschichtschreiber, dem Geschichtschreiber aber der abstrahierende Philosoph folgte.

 


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