VII.4. Die genetische Kraft ist die Mutter aller Bildungen auf der Erde, der das Klima feindlich oder freundlich nur zuwirkt

 

Wer zum erstenmal das Wunder der Schöpfung eines lebendigen Wesens sähe, wie würde er staunen!125) Aus Kügelchen, zwischen welchen Säfte schießen, wird ein lebender Punkt, und aus dem Punkt erzeugt sich ein Geschöpf der Erde. Bald wird das Herz sichtbar und fängt an, so schwach und unvollkommen es sei, zu schlagen; das Blut, das vor dem Herzen da war, fängt an, sich zu röten; bald erscheint das Haupt; bald zeigen sich Augen, Mund, Sinne und Glieder. Noch ist keine Brust da, und schon ist Bewegung in ihren innern Teilen; noch sind die Eingeweide nicht gebildet, und das Tier öffnet den Schnabel Das kleine Gehirn ist außerhalb dem Kopf, das Herz noch außer der Brust; wie ein Spinnengewebe sind Ribben und Beine; bald zeigen sich Flügel, Füße, Zehen, Hüften, und nun wird das Lebendige weiter genährt. Was bloß war, bedeckt sich: die Brust, das Hirn schließen sich zu; Magen und Eingeweide hangen noch hinunter. Auch diese bilden sich endlich, je mehr die Materie verzehrt wird; die Häute ziehn sich zusammen und hinauf; der Unterleib schließt sich: das Tier ist bereitet. Es schwimmt jetzt nicht mehr, sondern es liegt; bald wacht, bald schläft es; es regt sich, es schläft, es ruft, es sucht Ausgang und kommt, in allen Teilen ganz und völlig, ans Licht der Welt. Wie würde der, der dies Wunder zum erstenmal sähe, es nennen? Da ist, würde er sagen, eine lebendige, organische Kraft; ich weiß nicht, woher sie gekommen, noch was sie in ihrem Innern sei, aber daß sie da sei, daß sie lebe, daß sie organische Teile sich aus dem Chaos einer homogenen Materie zueigne, das sehe ich, das ist unleugbar.

Bemerkte er ferner und sähe, daß jeder dieser organischen Teile, gleichsam actu, in eigner Wirkung gebildet werde: das Herz erzeuge sich nicht anders als durch eine Zusammenströmung der Kanäle, die schon vor ihm waren; sobald der Magen sichtbar werde, habe er Materie der Verdauung in sich. So alle Adern, alle Gefäße; das Enthaltne war vor dem Enthaltenden, das Flüssige vor dem Festen, der Geist vor dem Körper da, in welchen jener sich nur kleidet. Bemerkte er dies126): was würde er sagen, als daß die unsichtbare Kraft nicht willkürlich bilde, sondern daß sie sich ihrer innern Natur nach gleichsam nur offenbare. Sie wird in einer ihr zugehörigen Masse sichtbar und muß, wie und woher es auch sei, den Typus ihrer Erscheinung in ihr selbst haben. Das neue Geschöpf ist nichts als eine wirklich gewordene Idee der schaffenden Natur, die immer nur tätig denkt.

Führe er fort und bemerkte, daß, was diese Schöpfung befördert, mütterliche oder Sonnenwärme sei, daß das Ei der Mutter aber, aller vorhandenen Materie und Wärme ungeachtet, ohne Belebung des Vaters keine lebendige Frucht gebe, was würde er mutmaßen, als das Principium der Wärme könne mit dem Principium des Lebens, das es befördert, zwar verwandt sein, eigentlich aber müsse in der Vereinigung zweier lebendigen Wesen die Ursache liegen, die diese organische Kraft in Wirksamkeit setzt, dem toten Chaos der Materie lebendige Form zu geben. So sind wir, so sind alle lebende Wesen gebildet: jedes nach der Art seiner Organisation, alle aber nach dem unverkennbaren Gesetz einer Analogie, die durch alles Lebendige unserer Erde herrscht.

Endlich, wenn er erführe, daß diese lebendige Kraft das ausgebildete Geschöpf nicht verlasse, sondern sich in ihm tätig zu offenbaren fortfahre; zwar nicht mehr schaffend, denn es ist erschaffen, aber erhaltend, belebend, nährend. Sobald es auf die Welt tritt, verrichtet es alle Lebensverrichtungen, zu welchen, ja zum Teil in welchen es gebildet wurde: der Mund öffnet sich, wie Öffnung seine erste Gebärde war, und die Lunge schöpft Atem; die Stimme ruft, der Magen verdaut, die Lippen saugen: es wächst, es lebt, alle innern und äußern Teile kommen einander zu Hülfe; in einer gemeinschaftlichen Tätigkeit und Mitleidenheit ziehen sie an, werfen aus, verwandeln in sich, helfen einander in Schmerzen und Krankheit auf tausendfältig- wunderbare, unerforschte Weise. Was würde, was könnte jeder, der dies zuerst bemerkte, sagen als: Die eingeborne, genetische Lebenskraft ist in dem Geschöpf, das durch sie gebildet worden, in allen Teilen und in jedem derselben nach seiner Weise, d. i. organisch noch einwohnend. Allenthalben ist sie ihm aufs vielartigste gegenwärtig, da es nur durch sie ein lebendiges Ganze ist, was sich erhält, wächst und wirkt.

Und diese Lebenskraft haben wir alle in uns: in Gesundheit und Krankheit steht sie uns bei, assimiliert gleichartige Teile, sondert die fremden ab, stößt die feindlichen weg; sie ermattet endlich im Alter und lebt in einigen Teilen noch nach dem Tode. Das Vernunftvermögen unserer Seele ist sie nicht; denn dieses hat sich den Körper, den es nicht kennt und ihn nur als ein unvollkommenes, fremdes Werkzeug seiner Gedanken braucht, gewiß nicht selbst gebildet.

 


 © textlog.de 2004 • 21.12.2024 13:56:06 •
Seite zuletzt aktualisiert: 26.10.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright