IX.3. Durch Nachahmung, Vernunft und Sprache sind alle Wissenschaften und Künste des Menschengeschlechts erfunden worden
Sobald der Mensch, durch welchen Gott oder Genius es geschehen sei, auf den Weg gebracht war, eine Sache als Merkmal sich zuzueignen und dem gefundnen Merkmal ein willkürliches Zeichen zu substituieren, d. i. sobald auch in den kleinsten Anfängen Sprache der Vernunft begann, sofort war er auf dem Wege zu allen Wissenschaften und Künsten. Denn was tut die menschliche Vernunft in Erfindung dieser, als bemerken und bezeichnen? Mit der schwersten Kunst, der Sprache, war also gewissermaße ein Vorbild zu allem gegeben.
Der Mensch z. B., der von den Tieren ein Merkmal der Benennung faßte, hatte damit auch den Grund gelegt, die zähmbaren Tiere zu bezähmen, die nutzbaren sich nutzbar zu machen und überhaupt alles in der Natur für sich zu erobern; denn bei jeder dieser Zueignungen tat er eigentlich nichts als das Merkmal eines zähmbaren, nützlichen, sich zuzueignenden Wesens bemerken und es durch Sprache oder Probe bezeichnen. Am sanften Schaf z. E. bemerkte er die Milch, die das Lamm sog, die Wolle, die seine Hand wärmte, und suchte das eine wie das andere sich zuzueignen. Am Baum, zu dessen Früchten ihn der Hunger führte, bemerkte er Blätter, mit denen er sich gürten könnte, Holz, das ihn wärmte, u. f. So schwung er sich aufs Roß, daß es ihn trage; er hielt es bei sich, daß es ihn abermals trage; er sahe den Tieren, er sahe der Natur ab, wie jene sich schützten und nährten, wie diese ihre Kinder erzog oder vor der Gefahr bewahrte. So kam er auf den Weg aller Künste durch nichts als die innere Genesis eines abgesonderten Merkmals und durch Festhaltung desselben in einer Tat oder sonst einem Zeichen, kurz, durch Sprache. Durch sie, und durch sie allein, wurde Wahrnehmung, Anerkennung, Zurückerinnerung, Besitznehmung, eine Kette der Gedanken möglich, und so wurden mit der Zeit die Wissenschaften und Künste geboren, Töchter der bezeichnenden Vernunft und einer Nachahmung mit Absicht. Schon Baco hat eine Erfindungskunst gewünscht; da die Theorie derselben aber schwer und doch vielleicht unnütz sein würde, so wäre vielmehr eine Geschichte der Erfindungen das lehrreiche Werk, das die Götter und Genien des Menschengeschlechts ihren Nachkommen zum ewigen Muster machte. Allenthalben würde man sehen, wie Schicksal und Zufall diesem Erfinder ein neues Merkmal ins Auge, jenem eine neue Bezeichnung als Werkzeug in die Seele gebracht und meistens durch eine kleine Zusammenrückung zweier lange bekannter Gedanken eine Kunst befördert habe, die nachher auf Jahrtausende wirkte. Oft war diese erfunden und wurde vergessen; ihre Theorie lag da, und sie wurde nicht gebraucht, bis ein glücklicher andere das liegende Gold in Umlauf brachte oder mit einem kleinen Hebel aus einem neuen Standpunkt Welten bewegte. Vielleicht ist keine Geschichte, die so augenscheinlich die Regierung eines höhern Schicksals in menschlichen Dingen zeigt, als die Geschichte dessen, worauf unser Geist am stolzesten zu sein pflegt, der Erfindung und Verbesserung der Künste. Immer war das Merkmal und die Materie seiner Bezeichnung längst dagewesen, aber jetzt wurde es bemerkt, jetzt wurde es bezeichnet. Die Genesis der Kunst, wie des Menschen, war ein Augenblick des Vergnügens, eine Vermählung zwischen Idee und Zeichen, zwischen Geist und Körper.
Mit Hochachtung geschieht es, daß ich die Erfindungen des menschlichen Geistes auf dies einfache Principium seiner anerkennenden und bezeichnenden Vernunft zurückführe; denn eben dies ist das wahre Göttliche im Menschen, sein charakteristischer Vorzug. Alle, die eine gelernte Sprache gebrauchen, gehen wie in einem Traum der Vernunft einher; sie denken in der Vernunft anderer und sind nur nachahmend weise; denn ist der, der die Kunst fremder Künstler gebraucht, darum selbst Künstler? Aber der, in dessen Seele sich eigne Gedanken erzeugen und einen Körper sich selbst bilden, er, der nicht mit dem Auge allein, sondern mit dem Geist sieht und nicht mit der Zunge, sondern mit der Seele bezeichnet, er, dem es gelingt, die Natur in ihrer Schöpfungsstätte zu belauschen, neue Merkmale ihrer Wirkungen auszuspähen und sie durch künstliche Werkzeuge zu einem menschlichen Zweck anzuwenden er ist der eigentliche Mensch, und da er selten erscheint, ein Gott unter den Menschen. Er spricht, und Tausende lallen ihm nach; er erschafft, und andere spielen mit dem, was er hervorbrachte; er war ein Mann, und vielleicht sind Jahrhunderte nach ihm wiederum Kinder. Wie selten die Erfinder im menschlichen Geschlecht gewesen, wie träge und lässig man an dem hängt, was man hat, ohne sich um das zu bekümmern, was uns fehlt: in hundert Proben zeigt uns dies der Anblick der Welt und die Geschichte der Völker; ja, die Geschichte der Kultur wird es uns selbst genugsam weisen.
Mit Wissenschaften und Künsten zieht sich also eine neue Tradition durchs Menschengeschlecht, an deren Kette nur wenigen Glücklichen etwas Neues anzureihen vergönnt war; die andern hangen an ihr wie treufleißige Sklaven und ziehen mechanisch die Kette weiter. Wie dieser Zucker- und Mohrentrank durch manche bearbeitende Hand ging, eh er zu mir gelangte, und ich kein anderes Verdienst habe, als ihn zu trinken, so ist unsere Vernunft und Lebensweise, unsere Gelehrsamkeit und Kunsterziehung, unsere Kriegs- und Staatsweisheit ein Zusammenfluß fremder Erfindungen und Gedanken, die ohn unser Verdienst aus aller Welt zu uns kamen und in denen wir uns von Jugend auf baden oder ersäufen.