VIII.2. Die Einbildungskraft der Menschen ist allenthalben organisch und klimatisch; allenthalben aber wird sie von der Tradition geleitet

 

Von einer Sache, die außer dem Kreise unserer Empfindung liegt, haben wir keinen Begriff; die Geschichte jenes Siamer-Königes, der Eis und Schnee für Undinge ansah, ist in tausend Fällen unsere eigne Geschichte. Jedes eingeborne sinnliche Volk hat sich also mit seinen Begriffen auch in seine Gegend umschränkt; wenn es tut, als ob es Worte verstehe, die ihm von ganz fremden Dingen gesagt werden, so hat man lange Zeit Ursache, an diesem innern Verständnis zu zweifeln.

»Die Grönländer haben es gern«, sagt der ehrliche Cranz140), »wenn man ihnen etwas von Europa erzählt; sie könnten aber davon nichts begreifen, wenn man es ihnen nicht gleichnisweise deutlich machte. Die Stadt oder das Land z. E. hat so viel Einwohner, daß viele Walfische auf einen Tag kaum zur Nahrung hinreichen würden; man ißt aber keine Walfische, sondern Brot, das wie Gras aus der Erde wächst, auch das Fleisch der Tiere, die Hörner haben, und läßt sich durch große, starke Tiere auf ihrem Rücken tragen oder auf einem hölzernen Gestell ziehen. Da nennen sie denn das Brot Gras, die Ochsen Renntiere und die Pferde große Hunde, bewundern alles und bezeigen Lust, in einem so schönen, fruchtbaren Lande zu wohnen, bis sie hören, daß es da oft donnert und keine Seehunde gibt. - Sie hören auch gern von Gott und göttlichen Dingen, solange man ihnen ihre abergläubischen Fabeln auch gelten läßt.« Wir wollen nach ebendiesem Cranz141) einen kleinen Katechismus ihrer theologischen Naturlehre machen, wie sie auch bei europäischen Fragen nicht anders als in ihrem Gesichtskreise antworten und denken.

Frage: Wer hat wohl Himmel und Erde und alles, was ihr seht, geschaffen?

Antwort: Das wissen wir nicht. Den Mann kennen wir nicht. Es muß ein sehr mächtiger Mann sein. Oder es ist wohl immer so gewesen und wird so bleiben.

Frage: Habt ihr auch eine Seele?

Antwort: O ja. Sie kann ab- und zunehmen; unsere Angekoks können sie flicken und reparieren; wenn man sie verloren hat, bringen sie sie wieder, und eine kranke können sie mit einer frischen gesunden Seele von einem Hasen, Renntier, Vogel oder jungen Kinde verwechseln. Wenn wir auf eine weite Reise gegangen sind, so ist oft unsere Seele zu Hause. In der Nacht im Schlaf wandert sie aus dem Leibe; sie geht auf die Jagd, zum Tanz, zum Besuch, und der Leib liegt gesund da. -

Frage: Wo bleibt sie denn im Tode?

Antwort: Da geht sie an den glückseligen Ort in der Tiefe des Meers. Daselbst wohnt Torngarsuk und seine Mutter; da ist ein beständiger Sommer, schöner Sonnenschein und keine Nacht. Auch gutes Wasser ist da und ein Überfluß an Vögeln, Fischen, Seehunden und Renntieren, die man alle ohne Mühe fangen kann oder die man gar schon in einem großen Kessel kochend findet.

Frage: Und kommen alle Menschen dahin?

Antwort: Dahin kommen nur die guten Leute, die zur Arbeit getaugt, die große Taten getan, viel Walfische und Seehunde gefangen, viel ausgestanden haben oder gar im Meer ertrunken, über der Geburt gestorben sind u. f.

Frage: Wie kommen diese dahin?

Antwort: Nicht leicht. Man muß fünf Tage lang oder länger an einem rauhen Felsen, der schon ganz blutig ist, herunterklettern.

Frage: Seht ihr aber nicht jene schönen himmlischen Körper? Sollte der Ort unserer Zukunft nicht vielmehr dort sein?

Antwort: Auch dort ist er, im obersten Himmel, hoch über dem Regenbogen, und die Fahrt dahin ist so leicht und hurtig, daß die Seele noch selbigen Abend bei dem Mond, der ein Grönländer gewesen, in seinem Hause ausruhen und mit den übrigen Seelen Ball spielen und tanzen kann. Dieser Tanz, dieses Ballspiel der Seelen ist jenes Nordlicht.

Frage: Und was tun sie sonst oben?

Antwort: Sie wohnen in Zelten um einen großen See, in welchem Fische und Vögel die Menge sind. Wenn dieser See überfließt, so regnet's auf der Erde; sollten einmal seine Dämme durchbrechen, so gäbe es eine allgemeine Sündflut. - Überhaupt aber kommen nur die Untauglichen, Faulen in den Himmel; die Fleißigen gehen zum Grunde der See. Jene Seelen müssen oft hungern, sind mager und kraftlos, können auch wegen der schnellen Umdrehung des Himmels gar keine Ruhe haben. Böse Leute und Hexen kommen dahin; sie werden von Raben geplagt, die sie nicht von den Haaren abhalten können u. f.

Frage: Wie glaubt ihr, daß das menschliche Geschlecht entstanden sei?

Antwort: Der erste Mensch, Kallak, kam aus der Erde und bald hernach die Frau aus seinem Daumen. Einmal gebar eine Grönländerin, und sie gebar Kablunät, d. i. die Ausländer und Hunde; daher sind jene wie diese geil und fruchtbar.

Frage: Und wird die Welt ewig dauern? Antwort: Einmal ist sie schon umgeküppt, und alle Menschen sind ertrunken. Der einige Mann, der sich rettete, schlug mit dem Stock auf die Erde; da kam ein Weib hervor, und beide bevölkerten die Erde wieder. Jetzt ruht sie noch auf ihren Stützen, die aber schon vor Alter so morsch sind, daß sie oft krachen; daher sie längst eingefallen wäre, wenn unsere Angekoks nicht immer daran flickten.

Frage: Was haltet ihr aber von jenen schönen Sternen?

Antwort: Sie sind alle ehedem Grönländer oder Tiere gewesen, die durch besondre Zufälle dahin aufgefahren sind und nach Verschiedenheit ihrer Speise blaß oder rot glänzen. Jene, die sich begegnen, sind zwei Weiber, die einander besuchen, dieser schießende Stern ist eine zum Besuch reisende Seele. Dies große Gestirn (der Bär) ist ein Renntier; jene Siebensterne sind Hunde, die einen Bären hetzen; jene (Orions Gürtel) sind Verwilderte, die vom Seehundfange nicht nach Hause finden konnten und unter die Sterne kamen. Mond und Sonne sind zwei leibliche Geschwister. Malina, die Schwester, wurde von ihrem Bruder im Finstern verfolgt; sie wollte sich mit der Flucht retten, fuhr in die Höhe und wurde zur Sonne. Anninga fuhr ihr nach und wurde zum Monde; noch immer läuft der Mond um die jungfräuliche Sonne umher, in Hoffnung, sie zu haschen, aber vergebens. Müde und abgezehrt (beim letzten Vierteil) fährt er auf den Seehundfang, bleibt einige Tage aus und kommt so fett wieder, wie wir ihn im Vollmond sehen. Er freut sich, wenn Weiber sterben, und die Sonne hat ihre Lust an der Männer Tode. -

 


 © textlog.de 2004 • 15.11.2024 13:37:49 •
Seite zuletzt aktualisiert: 26.10.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright