IX.4. Die Regierungen sind festgestellte Ordnungen unter den Menschen, meistens aus ererbter Tradition

 

 Wie nun? Sollen wir die Vorsehung darüber anklagen, daß sie die Erdstriche unserer Kugel so ungleich schuf und auch unter den Menschen ihre Gaben so ungleich verteilte? Die Klage wäre müßig und ungerecht; denn sie ist der augenscheinlichen Absicht unseres Geschlechts entgegen. Sollte die Erde bewohnbar werden, so mußten Berge auf ihr sein und auf dem Rücken derselben harte Bergvölker leben. Wenn diese sich nun niedergossen und die üppige Ebne unterjochten, so war die üppige Ebne auch meistens dieser Unterjochung wert; denn warum ließ sie sich unterjochen, warum erschlaffte sie an den Brüsten der Natur in kindischer Üppigkeit und Torheit? Man kann es als einen Grundsatz der Geschichte annehmen, daß kein Volk unterdrückt wird, als das sich unterdrücken lassen will, das also der Sklaverei wert ist. Nur der Feige ist ein geborner Knecht; nur der Dumme ist von der Natur bestimmt, einem Klügern zu dienen; alsdenn ist ihm auch wohl auf seiner Stelle, und er wäre unglücklich, wenn er befehlen sollte.

Überdem ist die Ungleichheit der Menschen von Natur nicht so groß, als sie durch die Erziehung wird, wie die Beschaffenheit eines und desselben Volks unter seinen mancherlei Regierungsarten zeigt. Das edelste Volk verliert unter dem Joch des Despotismus in kurzer Zeit seinen Adel, das Mark in seinen Gebeinen wird ihm zertreten, und da seine feinsten und schönsten Gaben zur Lüge und zum Betrug, zur kriechenden Sklaverei und Üppigkeit gemißbraucht werden: was Wunder, daß es sich endlich an sein Joch gewöhnet, es küsset und mit Blumen umwindet? So beweinenswert dies Schicksal der Menschen im Leben und in der Geschichte ist, weil es beinah keine Nation gibt, die ohne das Wunder einer völligen Palingenesie aus dem Abgrunde einer gewonnten Sklaverei je wieder aufgestanden wäre, so ist offenbar dies Elend nicht das Werk der Natur, sondern der Menschen. Die Natur leitete das Band der Gesellschaft nur bis auf Familien; weiterhin ließ sie unserm Geschlecht die Freiheit, wie es sich einrichten, wie es das feinste Werk seiner Kunst, den Staat, bauen wollte. Richteten sich die Menschen gut ein, so hätten sie's gut; wählten oder duldeten sie Tyrannei und üble Regierungsformen, so mochten sie ihre Last tragen. Die gute Mutter konnte nichts tun, als sie durch Vernunft, durch Tradition der Geschichte oder endlich durch das eigne Gefühl des Schmerzes und Elendes lehren. Nur also die innere Entartung des Menschengeschlechts hat den Lastern und Entartungen menschlicher Regierung Raum gegeben; denn teilt sich im unterdrückendsten Despotismus nicht immer der Sklave mit seinem Herrn im Raube, und ist nicht immer der Despot der ärgste Sklave?

 Aber auch in der ärgsten Entartung verläßt die unermüdlich-gütige Mutter ihre Kinder nicht und weiß ihnen den bittern Trank der Unterdrückung von Menschen wenigstens durch Vergessenheit und Gewohnheit zu lindern. Solange sich die Völker wachsam und in reger Kraft erhalten oder wo die Natur sie mit dem harten Brot der Arbeit speiset, da finden keine weiche Sultane statt; das rauhe Land, die harte Lebensweise sind ihnen der Freiheit Festung. Wo gegenteils die Völker in ihrem weicheren Schoß entschliefen und das Netz duldeten, das man über sie zog, siehe, da kommt die tröstende Mutter dem Unterdrückten wenigstens durch ihre milderen Gaben zu Hülfe; denn der Despotismus setzt immer eine Art Schwäche, folglich mehrere Bequemlichkeit voraus, die entweder aus Gaben der Natur oder der Kunst entstanden. In den meisten despotisch regierten Ländern nährt und kleidet die Natur den Menschen fast ohne Mühe, daß er sich also mit dem vorüberrasenden Orkan gleichsam nur abfinden darf und nachher zwar gedankenlos und ohne Würde, dennoch aber nicht ganz ohne Genuß den Atem ihrer Erquickung trinkt. Überhaupt ist das Los des Menschen und seine Bestimmung zur irdischen Glückseligkeit weder ans Herrschen noch ans Dienen geknüpft. Der Arme kann glücklich, der Sklave in Ketten kann frei sein; der Despot und sein Werkzeug sind meistens, und oft in ganzen Geschlechtern, die unglücklichsten und unwürdigsten Sklaven.

 Da alle Sätze, die ich bisher berührt habe, aus der Geschichte selbst ihre eigentliche Erläuterung nehmen müssen, so bleibt ihre Entwicklung auch dem Faden derselben aufbehalten. Für jetzt sein mir noch einige allgemeine Blicke vergönnt:

 1. Ein zwar leichter, aber böser Grundsatz wäre es zur Philosophie der Menschengeschichte: »Der Mensch sei ein Tier, das einen Herren nötig habe und von diesem Herren oder von einer Verbindung derselben das Glück seiner Endbestimmung erwarte.« Kehre den Satz um: »Der Mensch, der einen Herren nötig hat, ist ein Tier; sobald er Mensch wird, hat er keines eigentlichen Herren mehr nötig.« Die Natur nämlich hat unserm Geschlecht keinen Herren bezeichnet; nur tierische Laster und Leidenschaften machen uns desselben bedürftig. Das Weib bedarf eines Mannes und der Mann des Weibes; das unerzogne Kind hat erziehender Eltern, der Kranke des Arztes, der Streitende des Entscheiders, der Haufe Volks eines Anführers nötig: dies sind Naturverhältnisse, die im Begriff der Sache liegen. Im Begriff des Menschen liegt der Begriff eines ihm nötigen Despoten, der auch Mensch sei, nicht; jener muß erst schwach gedacht werden, damit er eines Beschützers, unmündig, damit er eines Vormundes, wild, damit er eines Bezähmers, abscheulich, damit er eines Strafengels nötig habe. Alle Regierungen der Menschen sind also nur aus Not entstanden und um dieser fortwährenden Not willen da. So wie es nun ein schlechter Vater ist, der sein Kind erzieht, damit es, lebenslang unmündig lebenslang eines Erziehers bedörfe; wie es ein böser Arzt ist, der die Krankheit nährt, damit er dem Elenden bis ins Grab hin unentbehrlich werde: so mache man die Anwendung auf die Erzieher des Menschengeschlechts, die Väter des Vaterlandes und ihre Erzognen. Entweder müssen diese durchaus keiner Besserung fähig sein, oder alle die Jahrtausende, seitdem Menschen regiert wurden, müßten es doch merklich gemacht haben, was aus ihnen geworden sei und zu welchem Zweck jene sie erzogen haben. Der Verfolg dieses Werks wird solche Zwecke sehr deutlich zeigen.

 2. Die Natur erzieht Familien; der natürlichste Staat ist also auch ein Volk, mit einem Nationalcharakter. Jahrtausendelang erhält sich dieser in ihm und kann, wenn seinem mitgebornen Fürsten daran liegt, am natürlichsten ausgebildet werden; denn ein Volk ist sowohl eine Pflanze der Natur als eine Familie, nur jenes mit mehreren Zweigen. Nichts scheint also dem Zweck der Regierungen so offenbar entgegen als die unnatürliche Vergrößerung der Staaten, die wilde Vermischung der Menschengattungen und Nationen unter einen Zepter. Der Menschenzepter ist viel zu schwach und klein, daß so widersinnige Teile in ihn eingeimpft werden könnten; zusammengeleimt werden sie also in eine brechliche Maschine, die man Staatsmaschine nennt, ohne inneres Leben und Sympathie der Teile gegeneinander. Reiche dieser Art, die dem besten Monarchen den Namen Vater des Vaterlandes so schwer machen, erscheinen in der Geschichte wie jene Symbole der Monarchien im Traumbilde des Propheten, wo sich das Löwenhaupt mit dem Drachenschweif und der Adlersflügel mit dem Bärenfuß zu einem unpatriotischen Staatsgebilde vereinigt Wie trojanische Rosse rücken solche Maschinen zusammen, sich einander die Unsterblichkeit verbürgend, da doch ohne Nationalcharakter kein Leben in ihnen ist und für die Zusammengezwungenen nur der Fluch des Schicksals sie zur Unsterblichkeit verdammen könnte; denn eben die Staatskunst, die sie hervorbrachte, ist auch die, die mit Völkern und Menschen als mit leblosen Körpern spielt. Aber die Geschichte zeigt genugsam, daß diese Werkzeuge des menschlichen Stolzes von Ton sind und wie aller Ton auf der Erde zerbrechen oder zerfließen.

 3. Wie bei allen Verbindungen der Menschen gemeinschaftliche Hülfe und Sicherheit der Hauptzweck ihres Bundes ist, so ist auch dem Staat keine andere als die Naturordnung die beste, daß nämlich auch in ihm jeder das sei, wozu ihn die Natur bestellte. Sobald der Regent in die Stelle des Schöpfers treten und durch Willkür oder Leidenschaft von seinetwegen erschaffen will, was das Geschöpf von Gottes wegen nicht sein sollte, sobald ist dieser dem Himmel gebietende Despotismus aller Unordnung und des unvermeidlichen Mißgeschicks Vater. Da nun alle durch Tradition festgesetzte Stände der Menschen auf gewisse Weise der Natur entgegenarbeiten, die sich mit ihren Gaben an keinen Stand bindet, so ist kein Wunder, daß die meisten Völker, nachdem sie allerlei Regierungsarten durchgangen waren und die Last jeder empfunden hatten, zuletzt verzweifelnd auf die zurückkamen, die sie ganz zu Maschinen machte, auf die despotisch -erbliche Regierung. Sie sprachen wie jener ebräische König, als ihm drei Übel vorgelegt wurden: »Lasst uns lieber in die Hand des Herren fallen als in die Hand der Menschen!«, und gaben sich auf Gnade und Ungnade der Providenz in die Arme, erwartend, wen diese ihnen zum Regenten zusenden würde; denn die Tyrannei der Aristokraten ist eine harte Tyrannei, und das gebietende Volk ist ein wahrer Leviathan. Alle christlichen Regenten nennen sich also von Gottes Gnaden und bekennen damit, daß sie nicht durch ihr Verdienst, das vor der Geburt auch gar nicht stattfindet, sondern durch das Gutbefinden der Vorsehung, die sie auf dieser Stelle geboren werden ließ, zur Krone gelangten. Das Verdienst dazu müssen sie sich erst durch eigne Mühe erwerben, mit der sie gleichsam die Providenz zu rechtfertigen haben, daß sie sie ihres hohen Amts würdig erkannte; denn das Amt des Fürsten ist kein geringeres, als Gott zu sein unter den Menschen, ein höherer Genius in einer sterblichen Bildung. Wie Sterne glänzen die wenigen, die diesen auszeichnenden Ruf verstanden, in der unendlich dunkeln Wolkennacht gewöhnlicher Regenten und erquicken den verlornen Wanderer auf seinem traurigen Gange in der politischen Menschengeschichte.

 O daß ein anderer Montesquieu uns den Geist der Gesetze und Regierungen auf unserer runden Erde nur durch die bekanntesten Jahrhunderte zu kosten gäbe! Nicht nach leeren Namen dreier oder vier Regierungsformen, die doch nirgend und niemals dieselben sind oder bleiben; auch nicht nach witzigen Prinzipien des Staats, denn kein Staat ist auf ein Wortprincipium gebaut, geschweige, daß er dasselbe in allen seinen Ständen und Zeiten unwandelbar erhielte; auch nicht durch zerschnittene Beispiele aus allen Nationen, Zeiten und Weltgegenden, aus denen in dieser Verwirrung der Genius unserer Erde selbst kein Ganzes bilden würde: sondern allein durch die philosophische, lebendige Darstellung der bürgerlichen Geschichte, in der, so einförmig sie scheint, keine Szene zweimal vorkommt und die das Gemälde der Laster und Tugenden unseres Geschlechts und seiner Regenten, nach Ort und Zeiten immer verändert und immer dasselbe, fürchterlich-lehrreich vollendet.

 


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