VIII.3. Der praktische Verstand des Menschengeschlechts ist allenthalben unter Bedürfnissen der Lebensweise erwachsen; allenthalben aber ist er eine Blüte des Genius der Völker, ein Sohn der Tradition und Gewohnheit
Ungleich weiter aber kam der Mensch dadurch, daß er Tiere zu sich lockte und sie endlich unterjochte; der ungeheure Unterschied nachbarlicher Nationen, die mit oder ohne diese Substituten ihrer Kräfte leben, ist augenscheinlich. Woher kam's, daß das entlegne Amerika dem größesten Teil der Alten Welt bei Entdeckung desselben noch so weit nachstand und die Europäer mit den Einwohnern wie mit einer Herde unbewehrter Schafe umgehen konnten? An körperlichen Kräften lag es nicht allein, wie noch jetzt die Beispiele aller ungezählten Waldnationen zeigen; im Wuchs, in schnellem Lauf, in rascher Gewandtheit übertreffen sie, Mann gegen Mann gerechnet, die meisten der Nationen, die um ihr Land würfeln. An Verstandeskraft, sofern sie für einen einzelnen Menschen gehört, lag es auch nicht; der Amerikaner hatte für sich zu sorgen gewußt und mit Weib und Kindern glücklich gelebt. Also lag es an Kunst, an Waffen, an gemeinsamer Verbindung, am meisten aber an bezähmten Tieren. Hätte der Amerikaner das einzige Pferd gehabt, dessen kriegerische Majestät er zitternd anerkannte, wären die wütenden Hunde sein gewesen, die die Spanier als mitbesoldete Diener der katholischen Majestät auf ihn hetzten die Eroberung hätte mehr gekostet, und den reitenden Nationen wäre wenigstens der Rückzug auf ihre Berge, in ihre Wüsten und Ebnen offengeblieben. Noch jetzt, erzählen alle Reisende, mache das Pferd den größesten Unterschied der amerikanischen Völker. Die Reiter in Nord-, insonderheit in Südamerika stehen von den armen Unterjochten in Mexiko und Peru so gewaltig ab, daß man sie kaum für nachbarliche Brüder eines Erdstrichs erkennen sollte. Jene haben sich nicht nur in ihrer Freiheit erhalten, sondern an Körper und Seele sind sie auch mannhaftere Menschen worden, als sie wahrscheinlich bei Entdeckung des Landes waren. Das Roß, das die Unterdrücker ihrer Brüder ihnen als unwissende Werkzeuge des Schicksals zubrachten, kann vielleicht einst der Befreier ihres ganzen Weltteils werden, wie die andern bezähmten Tiere, die man ihnen zuführte, zum Teil schon jetzt für sie Werkzeuge eines bequemern Lebens worden sind und wahrscheinlich einst Hülfsmittel einer eignen westlichen Kultur werden dörften. Wie dies aber allein in den Händen des Schicksals ruht, so kam es aus seinen Händen und lag in der Natur des Weltteils, daß sie so lange weder Pferd noch Esel, weder Hund noch Rind, weder Schaf noch Ziege noch Schwein noch Katze noch Kamel kannten. Sie hatten weniger Tiergattungen, weil ihr Land kleiner, von der Alten Welt getrennt und einem großen Teil nach wahrscheinlich später aus dem Schoß des Meers gestiegen war als die andern Weltteile; sie konnten also auch weniger zähmen. Das Alpaka und Lacma, die Kamelschafe von Mexiko, Peru und Chili waren die einzigen zähmbaren und bezähmten Geschöpfe; denn auch die Europäer haben mit ihrem Verstande kein anderes hinzufügen und weder den Kiki noch Pagi, weder den Tapir noch Ai zum nützlichen Haustier umbilden können.
In der Alten Welt dagegen, wieviel sind der bezähmten Tiere! und wieviel sind sie dem tätigen Verstande des Menschengeschlechts worden! Ohne Kamel und Pferd wäre die arabische und afrikanische Wüste unzugangbar; das Schaf und die Ziege haben der häuslichen Verfassung der Menschen, das Rind und der Esel dem Ackerbau und Handel der Völker aufgeholfen. Im einfachen Zustande lebte das Menschengeschöpf freundlich und gesellig mit diesen Tieren; schonend ging es mit ihnen um und erkannte, was es ihnen zu danken habe. So lebt der Araber und Mogole mit seinem Roß, der Hirt mit seinem Schaf, der Jäger mit seinem Hunde, der Peruaner mit seinem Lacma147). Bei einer menschlichen Behandlung gedeihen auch, wie allgemein bekannt ist, alle Hülfsgeschöpfe der menschlichen Lebensweise besser; sie lernen den Menschen verstehn und ihn lieben; es entwickeln sich bei ihnen Fähigkeiten und Neigungen, von denen weder das wilde noch das von Menschen unterdrückte Tier weiß, das in feister Dummheit oder in abgenutzter Gestalt selbst die Kräfte und Triebe seiner Gattung verliert. In einem gewissen Kreise haben sich also Menschen und Tiere zusammen gebildet; der praktische Verstand jener hat sich durch diese, die Fähigkeit dieser hat sich durch jene gestärkt und erweitert. Wenn man von den Hunden der Kamtschadalen liest, so weiß man kaum, wer das vernünftigere Geschöpf sei, ob der Hund oder der Kamtschadale.
In dieser Sphäre nun steht der erste tätige Verstand des Menschen still, ja allen Nationen, die an sie gewöhnt waren, ist's, sie zu verlassen, schwer worden; insonderheit hat sich jede vor der unterjochenden Herrschaft des Ackerbaues gefürchtet. So schöne Wiesenstriche Nordamerika hat, so genau jede Nation ihr Eigentum liebt und beschützt, ja so sehr manche durch die Europäer den Wert des Geldes, des Branntweins und einiger Bequemlichkeiten kennengelernt haben, so sind's doch nur die Weiber, denen sie die Bearbeitung des Feldes, den Bau des Maises und einiger Gartenfrüchte sowie die ganze Besorgung der Hütte überlassen; der kriegerische Jäger hat sich nicht entschließen können, ein Gärtner, Hirt oder Ackermann zu werden. Das tätige, freie Leben der Natur geht dem Sogenannt-Wilden über alles: mit Gefahren umringt, weckt es seine Kräfte, seinen Mut, seinen Entschluß und lohnt ihn dafür mit Gesundheit im Leben, in seiner Hütte mit unabhängiger Ruhe, in seinem Stamm mit Ansehen und Ehre. Weiter begehrt, weiter bedarf er nichts; und was könnte ihm auch ein anderer Zustand, dessen Bequemlichkeiten er nicht kennt und dessen Beschwerden er nicht mag, für neue Glückseligkeit geben? Man lese so manche unverschönte Rede derer, die wir Wilde nennen: ist nicht gesunder Verstand sowie natürliche Billigkeit in ihnen unverkennbar? Die Form des Menschen ist auch in diesem Zustande, obwohl mit roher Hand und zu wenigen Zwecken, dennoch so weit ausgebildet, als sie hier ausgebildet werden konnte, zur gleichmütigen Zufriedenheit nämlich und, nach einer dauerhaften langen Gesundheit, zum ruhigen Abschied aus diesem Leben. Der Beduin und Abipone befindet sich in seinem Zustande wohl; jener schauert vorm Leben der Städte, wie der letzte vorm Begräbnis in der Kirche noch nach seinem Tode zurückbebt: seinem Gefühl nach wären sie dort wie hier lebend begraben.
Auch wo der Ackerbau eingeführt ist, hat es Mühe gekostet, die Menschen an einen Erdkloß zu befestigen und das Mein und Dein einzuführen; manche Völker kleiner kultivierter Negerkönigreiche haben noch bis jetzt keine Begriffe davon, da, wie sie sagen, die Erde ein gemeines Gut ist. Jährlich teilen sie die Äcker unter sich aus und bearbeiten sie mit leichter Mühe; ist die Ernte eingebracht, so gehört der Boden sich selbst wieder. Überhaupt hat keine Lebensart in der Gesinnung der Menschen so viele Veränderungen bewirkt als der Ackerbau auf einem bezirkten Stück Erde. Indem er Hantierungen und Künste, Flecken und Städte hervorbrachte und also Gesetze und Polizei befördern mußte, hat er notwendig auch jenem fürchterlichen Despotismus den Weg geöffnet, der, da er jeden auf seinem Acker zu finden wußte, zuletzt einem jeden vorschrieb, was er auf diesem Stück Erde allein tun und sein sollte Der Boden gehörte jetzt nicht mehr dem Menschen, sondern der Mensch dem Boden. Durch den Nichtgebrauch verlor sich auch bald das Gefühl der gebrauchten Kräfte; in Sklaverei und Feigheit versunken, ging der Unterjochte vom arbeitseligen Mangel zur weichen Üppigkeit über. Daher kommt's, daß auf der ganzen Erde der Zeltbewohner den Bewohner der Hütte wie ein gefesseltes Lasttier, wie eine verkümmerte Abart seines Geschlechts betrachtet. Der herbste Mangel wird jenem eine Lust, solange Selbstbestimmung und Freiheit ihn würzt und lohnet; dagegen alle Leckereien Gift sind, sobald sie die Seele erschlaffen und dem sterblichen Geschöpf den einzigen Genuß seines hinfälligen Lebens, Würde und Freiheit, rauben.
Glaube niemand, daß ich einer Lebensart, die die Vorsehung zu einem ihrer vornehmsten Mittel gebraucht hat, die Menschen zur bürgerlichen Gesellschaft zu bereiten, etwas von ihrem Wert rauben wolle; denn auch ich esse Brot der Erde. Nur lasse man auch andern Lebensarten Gerechtigkeit widerfahren, die der Beschaffenheit unserer Erde nach ebensowohl zu Erzieherinnen der Menschheit bestimmt sind als das Leben der Ackerleute. Überhaupt baut der kleinste Teil der Erdbewohner den Acker nach unserer Weise, und die Natur hat ihm sein anderweites Leben selbst angewiesen. Jene zahlreiche Völkerschaften, die von Wurzeln, vom Reis, von Baumfrüchten, von der Jagd des Wassers, der Luft und der Erde leben, die ungezählten Nomaden, wenn sie sich gleich jetzo etwa nachbarliches Brot kaufen oder etwas Getreide bauen, alle Völker, die den Landbau ohne Eigentum oder durch ihre Weiber und Knechte treiben, sind alle noch eigentlich nicht Ackerleute; und welch ein kleiner Teil der Erde bleibt also dieser künstlichen Lebensart übrig! Nun hat die Natur entweder allenthalben ihren Zweck erreicht, oder sie erreichte ihn nirgend. Der praktische Verstand der Menschen sollte in allen Varietäten aufblühen und Früchte tragen, darum wurde dem vielartigsten Geschlecht eine so vielartige Erde.