VIII.1. Die Sinnlichkeit unseres Geschlechts verändert sich mit Bildungen und Klimaten; überall aber ist ein menschlicher Gebrauch der Sinne das, was zur Humanität führt
Da es nun bei Tieren sichtbar ist, was diese Lebensmittel aufs ganze Empfindungssystem für Macht haben wieviel stärker muß diese Macht bei der feinsten Blume aller Organisationen, der Menschheit, wirken. Mäßigkeit des sinnlichen Genusses ist ohne Zweifel eine kräftigere Methode zur Philosophie der Humanität als tausend gelernte künstliche Abstraktionen. Alle grobfühlenden Völker in einem wilden Zustande oder harten Klima leben gefräßig, weil sie nachher oft hungern müssen; sie essen auch meistens, was ihnen vorkommt. Völker von feinerem Sinn lieben auch feinere Vergnügen. Ihre Mahlzeiten sind einfach, und sie genießen täglich dieselben Speisen; dafür aber wählen sie wohllüstige Salben, feine Gerüche, Pracht, Bequemlichkeit, und vor allem ist ihre Blume des Vergnügens die sinnliche Liebe. Wenn bloß von Feinheit des Organs die Rede sein soll, so ist kein Zweifel, wohin sich der Vorzug neige; denn kein gesitteter Europäer wird zwischen dem Fett- und Tranmahle des Grönländers und den Spezereien des Indiers wählen. Indessen wäre die Frage, wem wir, trotz unserer Kultur in Worten, dem größesten Teil nach näher sein möchten, ob jenem oder diesem? Der Indier setzt seine Glückseligkeit in leidenschaftlose Ruhe, in einen unzerstörbaren Genuß der Heiterkeit und Freude; er atmet Wohllust; er schwimmt in einem Meer süßer Träume und erquickender Gerüche; unsere Üppigkeit hingegen, um deren willen wir alle Weltteile beunruhigen und berauben, was will, was sucht sie? Neue und scharfe Gewürze für eine gestumpfte Zunge, fremde Früchte und Speisen, die wir in einem überfüllenden Gemisch oft nicht einmal kosten, berauschende Getränke, die uns Ruhe und Geist rauben; was nur erdacht werden kann, unsere Natur aufregend zu zerstören, ist das tägliche große Ziel unseres Lebens. Dadurch unterscheiden sich Stände; dadurch beglücken sich Nationen. - Beglücken?
Weshalb hungert der Arme und muß bei stumpfen Sinnen in Mühe und Schweiß das elendeste Leben führen? Damit seine Großen und Reichen ohne Geschmack und vielleicht zu ewiger Nahrung ihrer Brutalität täglich auf feinere Art ihre Sinne stumpfen.
»Der Europäer ißt alles«, sagt der Indier, und sein feinerer Geruch hat schon vor den Ausdünstungen desselben einen Abscheu. Er kann ihn nach seinen Begriffen nicht anders als in die verworfne Kaste klassifizieren, der, zur tiefsten Verachtung, alles zu essen erlaubt wurde. Auch in vielen Ländern der Mahomedaner heißen die Europäer, und nicht bloß aus Religionshaß, unreine Tiere.
Schwerlich hat uns die Natur die Zunge gegeben, daß einige Wärzchen auf ihr das Ziel unseres mühseligen Lebens oder gar des Jammers anderer Unglücklichen würden. Sie überkleidete sie mit einem Gefühl des Wohlgeschmacks, teils damit sie uns die Pflicht, den wütenden Hunger zu stillen, versüßte und uns mit gefälligern Banden zur beschwerlichen Arbeit zöge, teils aber auch sollte das Gefühl dieses Organs der prüfende Wächter unserer Gesundheit werden, und den haben an ihm alle üppige Nationen längst verloren. Das Vieh kennt, was ihm gesund ist, und wählt mit scheuer Vorsicht seine Kräuter: das Giftige und Schädliche berührt es nicht und täuscht sich selten. Menschen, die unter den Tieren lebten, konnten die Nahrungsmittel wie sie unterscheiden; sie verloren dies Kriterium unter den Menschen, wie jene Indier ihren reinern Geruch verloren, da sie ihre einfachen Speisen aufgaben. Völker, die in gesunder Freiheit leben, haben noch viel von diesem sinnlichen Führer. Nie oder selten irren sie sich an Früchten ihres Landes; ja durch den Geruch spürt der Nordamerikaner sogar seine Feinde aus, und der Antille unterscheidet durch ihn die Fußtritte verschiedner Nationen. So können selbst die sinnlichsten, tierartigen Kräfte des Menschen wachsen, nachdem sie gebaut und geübt werden; der beste Anbau derselben indessen ist Proportion ihrer aller zu einer wahrhaft menschlichen Lebensweise, daß keine herrsche und sich keine verliere. Dies Verhältnis ändert sich mit jedem Lande und Klima. Der Anwohner heißer Gegenden ißt mit wildem Geschmack für uns höchst ekelhafte Speisen; denn seine Natur fodert sie als Arzneien, als rettende Wohltat.139
Gesicht und Gehör endlich sind die edelsten Sinne, zu denen der Mensch schon seiner organischen Anlage nach vorzüglich geschaffen worden; denn bei ihm sind die Werkzeuge dieser Sinne vor allen Tieren kunstreich ausgebildet. Zu welcher Schärfe haben manche Nationen Auge und Ohr gebracht! Der Kalmucke sieht Rauch, wo ihn kein europäisches Auge gewahr wird; der scheue Araber horcht weit umher in seiner stillen Wüste. Wenn nun mit dem Gebrauch dieser scharfen und feinen Sinne sich zugleich eine ungestörte Aufmerksamkeit verbindet, so zeigen es abermals viele Völker, wie weit es auch im kleinsten Werk der Geübte vor dem Ungeübten zu bringen vermöge Die jagenden Völker kennen jeden Strauch und Baum ihres Landes: die Nordamerikaner verirren sich nie in ihren Wäldern, Hunderte von Meilen suchen sie ihren Feind auf und finden ihre Hütten wieder. Die gesitteten Quaranier, erzählt Dobritzhofer, machen mit einer bewundernswürdigen Genauigkeit alles nach, was man ihnen an feiner, künstlicher Arbeit vorlegt; aber nach dem Gehör, aus beschreibenden Worten können sie sich wenig denken und nichts erfinden: eine natürliche Folge ihrer Erziehung, in der die Seele nicht durch Worte, sondern durch gegenwärtige, anschaubare Dinge gebildet wurde, da wortgelehrte Menschen oft so viel gehört haben, daß sie, was vor ihnen ist, nicht mehr zu sehen vermögen. Die Seele des freien Natursohnes ist gleichsam zwischen Auge und Ohr geteilt; er kennt mit Genauigkeit die Gegenstände, die er sah; er erzählt mit Genauigkeit die Sagen, die er horte. Seine Zunge stammelt nicht, so wie sein Pfeil nicht irrt; denn wie sollte seine Seele bei dem, was sie genau sah und hörte, irren und stammeln?
Gute Anlage der Natur für ein Wesen, bei dem die erste Sprosse seines Wohlgenusses und Verstandes doch nur aus sinnlichen Empfindungen keimt. Ist unser Körper gesund, sind unsere Sinne geübt und wohlgeordnet, so ist die Grundlage zu einer Heiterkeit und innern Freude gelegt, deren Verlust die spekulierende Vernunft mit Mühe kaum zu ersetzen weiß. Das Fundament der sinnlichen Glückseligkeit des Menschen ist allenthalben, daß er da lebe, wo er lebt; daß er genieße, was ihm vorliegt, und sich, sowenig es sein kann, mit zurück- oder vorwärtsblickenden Sorgen teile. Erhält er sich auf diesem Mittelpunkt fest, so ist er ganz und kräftig; irrt er aber, wenn er allein an das Jetzt denken und dasselbe genießen soll, mit seinen Gedanken umher: o wie zerreißet er sich und wird schwach und lebt oft mühseliger als die zu ihrem Glück enge-beschränkten Tiere. Das Auge des unbefangenen Naturmenschen blickt auf die Natur und erquickt sich, ohne es zu wissen, schon an ihrem Gewande, oder es arbeitet in seinem Geschäft, und indem es die Abwechselung der Jahrszeiten genießt, altert es kaum im höchsten Alter. Unzerstreut von Halbgedanken und unverwirrt von schriftlichen Zügen, hört das Ohr ganz, was es hört; es trinkt die Rede in sich, die, wenn sie auf bestimmte Gegenstände weist, die Seele mehr als eine Reihe tauber Abstraktionen befriedigt. So lebt, so stirbt der Wilde, satt, aber nicht überdrüssig der einfachen Vergnügen, die ihm seine Sinne gaben.
Aber noch ein wohltätiges Geschenk verlieh die Natur unserem Geschlecht, da sie auch den gedankendürftigsten Gliedern desselben die erste Sprosse der feinern Sinnlichkeit, die erquickende Tonkunst, nicht versagte. Ehe das Kind sprechen kann, ist es des Gesanges oder wenigstens der ihm zutönenden Reize desselben fähig; auch unter den ungebildeten Völkern ist also auch Musik die erste schöne Kunst, die ihre Seele bewegt. Das Gemälde der Natur fürs Auge ist so mannigfalt abwechselnd und groß, daß der nachahmende Geschmack lange umhertappen und sich an der Barbarei des Ungeheuern, des Auffallenden versuchen muß, ehe er richtige Proportionen lernt. Aber die Tonkunst, wie einfach und rohe sie sei, sie spricht zu allen menschlichen Herzen und ist nebst dem Tanz das allgemeine Freudenfest der Natur auf der Erde.
Schade nur, daß aus zu zärtlichem Geschmack die meisten Reisenden uns diese kindlichen Töne fremder Völker versagen. So unbrauchbar sie dem Tonkünstler sein mögen, so unterrichtend sind sie für den Forscher der Menschheit; denn die Musik einer Nation, auch in ihren unvollkommensten Gängen und Lieblingstönen, zeigt den innern Charakter derselben, d. i. die eigentliche Stimmung ihres empfindenden Organs, tiefer und wahrer, als ihn die längste Beschreibung äußerer Zufälligkeiten zu schildern vermöchte. -
Je mehr ich übrigens der ganzen Sinnlichkeit des Menschen in seinen mancherlei Gegenden und Lebensarten nachspüre, desto mehr finde ich, daß die Natur sich allenthalben als eine gütige Mutter bewiesen habe. Wo ein Organ weniger befriedigt werden konnte, reizte sie es auch minder und läßt Jahrtausende hindurch es milde schlummern. Wo sie die Werkzeuge verfeinerte und öffnete, hat sie auch Mittel umhergelegt, sie bis zur Befriedigung zu vergnügen, so daß die ganze Erde mit jeder zurückgehaltenen oder sich entfaltenden Organisation der Menschheit ihr wie ein harmonisches Saitenspiel ertönt, in dem alle Töne versucht sind oder werden versucht werden. -