IX.2. Das sonderbare Mittel zur Bildung der Menschen ist Sprache
« Zurück 1 |
2 |
3 Weiter »
Lasst uns also die gütige Vorsehung anbeten, die durch das zwar unvollkommene, aber allgemeine Mittel der Sprache im Innern die Menschen einander gleicher machte, als es ihr Äußeres zeigt. Alle kommen wir zur Vernunft nur durch Sprache und zur Sprache durch Tradition, durch Glauben ans Wort der Väter. Wie nun der ungelehrigste Sprachschüler der wäre, der vom ersten Gebrauch der Worte Ursach und Rechenschaft foderte, so muß ein ähnlicher Glaube an so schwere Dinge, als die Beobachtung der Natur und die Erfahrung sind, uns mit gesunder Zuversicht durchs ganze Leben leiten. Wer seinen Sinnen nicht traut, ist ein Tor und muß ein leerer Spekulant werden; dagegen wer sie trauend übt und eben dadurch erforscht und berichtigt, der allein gewinnt einen Schatz der Erfahrung für sein menschliches Leben. Ihm ist sodann die Sprache mit allen ihren Schranken genug; denn sie sollte den Beobachter nur aufmerksam machen und ihn zum eignen, tätigen Gebrauch seiner Seelenkräfte leiten. Ein feineres Idiom, durchdringend wie der Sonnenstrahl, könnte teils nicht allgemein sein, teils wäre es für die jetzige Sphäre unserer gröbern Tätigkeit ein wahres Übel. Ein gleiches ist's mit der Sprache des Herzens: sie kann wenig sagen, und doch siegt sie genug; ja gewissermaße ist unsere menschliche Sprache mehr für das Herz als für die Vernunft geschaffen. Dem Verstande kann die Gebärde, die Bewegung, die Sache selbst zu Hülfe kommen; die Empfindungen unseres Herzens aber blieben in unserer Brust vergraben, wenn der melodische Strom sie nicht in sanften Wellen zum Herzen des andern hinüberbrächte. Auch darum also hat der Schöpfer die Musik der Töne zum Organ unserer Bildung gewählt, eine Sprache für die Empfindung, eine Vaterund Mutter-, Kindes- und Freundessprache.
Geschöpfe, die sich einander noch nicht innig berühren können, stehn wie hinter Gegittern und flüstern einander zu das Wort der Liebe; bei Wesen, die die Sprache des Lichts oder eines andern Organs sprächen, veränderte sich notwendig die ganze Gestalt und Kette ihrer Bildung.
Zweitens. Der schönste Versuch über die Geschichte und mannigfaltige Charakteristik des menschlichen Verstandes und Herzens wäre also eine philosophische Vergleichung der Sprachen; denn in jede derselben ist der Verstand eines Volks und sein Charakter geprägt. Nicht nur die Sprachwerkzeuge ändern sich mit den Regionen, und beinah jeder Nation sind einige Buchstaben und Laute eigen, sondern die Namengebung selbst, sogar in Bezeichnung hörbarer Sachen, ja in den unmittelbaren Äußerungen des Affekts, den Interjektionen, ändert sich überall auf der Erde. Bei Dingen des Anschauens und der kalten Betrachtung wächst diese Verschiedenheit noch mehr, und bei den uneigentlichen Ausdrücken den Bildern der Rede, endlich beim Bau der Sprache, beim Verhältnis, der Ordnung, dem Consensus der Glieder zueinander ist sie beinah unermeßlich, noch immer aber also, daß sich der Genius eines Volks nirgend besser als in der Physiognomie seiner Rede offenbart. Ob z. B. eine Nation viele Namen oder viel Handlung hat, wie es Personen und Zeiten ausdrückt, welche Ordnung der Begriffe es liebt, alle dies ist oft in feinen Zügen äußerst charakteristisch. Manche Nation hat für das männliche und weibliche Geschlecht eine eigne Sprache; bei andern unterscheiden sich im bloßen Wort »ich « gar die Stände. Tätige Völker haben einen Überfluß von Modis der Verben, feinere Nationen eine Menge Beschaffenheiten der Dinge, die sie zu Abstraktionen erhöhten. Der sonderbarste Teil der menschlichen Sprachen endlich ist die Bezeichnung ihrer Empfindungen, die Ausdrücke der Liebe und Hochachtung, der Schmeichelei und der Drohung, in denen sich die Schwachheiten eines Volks oft bis zum Lächerlichen offenbaren.153 Warum kann ich noch kein Werk nennen, das den Wunsch Bacos, Leibniz', Sulzers u. a. nach einer allgemeinen Physiognomik der Völker aus ihren Sprachen nur einigermaßen erfüllt habe? Zahlreiche Beiträge zu demselben gibt's in den Sprachbüchern und Reisebeschreibern einzelner Nationen; unendlich schwer und weitläuftig dörfte die Arbeit auch nicht werden, wenn man das Nutzlose vorbeiginge und, was sich ins Licht stellen läßt, desto besser gebrauchte. An lehrreicher Anmut würde es keinen Schritt fehlen, weil alle Eigenheiten der Völker in ihrem praktischen Verstande, in ihren Phantasien, Sitten und Lebensweisen wie ein Garte des Menschengeschlechts dem Beobachter zum mannigfaltigsten Gebrauch vorlägen und am Ende sich die reichste Architektonik menschlicher Begriffe, die beste Logik und Metaphysik des gesunden Verstandes daraus ergäbe. Der Kranz ist noch aufgesteckt, und ein anderer Leibniz wird ihn zu seiner Zeit finden.
Eine ähnliche Arbeit wäre die Geschichte der Sprache einiger einzelnen Völker nach ihren Revolutionen, wobei ich insonderheit die Sprache unseres Vaterlandes für uns zum Beispiel nehme. Denn ob sie gleich nicht, wie andere, mit fremden Sprachen vermischt worden, so hat sie sich dennoch wesentlich, und selbst der Grammatik nach, von Otfrieds Zeiten her verändert. Die Gegeneinanderstellung verschiedner kultivierter Sprachen mit den verschiednen Revolutionen ihrer Völker würde mit jedem Strich von Licht und Schatten gleichsam ein wandelbares Gemälde der mannigfaltigen Fortbildung des menschlichen Geistes zeigen, der, wie ich glaube, seinen verschiednen Mundarten nach noch in allen seinen Zeitaltern auf der Erde blüht. Da sind Nationen in der Kindheit, der Jugend, dem männlichen und hohen Alter unseres Geschlechts; ja, wie manche Völker und Sprachen sind durch Einimpfung anderer oder wie aus der Asche entstanden!
Endlich die Tradition der Traditionen, die Schrift. Wenn Sprache das Mittel der menschlichen Bildung unseres Geschlechts ist, so ist Schrift das Mittel der gelehrten Bildung. Alle Nationen, die außer dem Wege dieser künstlichen Tradition lagen, sind nach unsern Begriffen unkultiviert geblieben; die daran auch nur unvollkommen teilnahmen, erhoben sich zu einer Verewigung der Vernunft und der Gesetze in Schriftzügen. Der Sterbliche, der dies Mittel, den flüchtigen Geist nicht nur in Worte, sondern in Buchstaben zu fesseln, erfand, er wirkte als ein Gott unter den Menschen.154
Aber was bei der Sprache sichtbar war, ist hier noch viel mehr sichtbar, nämlich daß auch dies Mittel der Verewigung unserer Gedanken den Geist und die Rede zwar bestimmt aber auch eingeschränkt und auf mannigfaltige Weise gefesselt habe. Nicht nur, daß mit den Buchstaben allmählich die lebendigen Akzente und Gebärden erloschen, sie, die vorher der Rede so starken Eingang ins Herz verschafft hatten; nicht nur, daß der Dialekte, mithin auch der charakteristischen Idiome einzelner Stämme und Völker dadurch weniger wurde, auch das Gedächtnis der Menschen und ihre lebendige Geisteskraft schwächte sich bei diesem künstlichen Hülfsmittel vorgezeichneter Gedankenformen. Unter Gelehrsamkeit und Büchern wäre längst erlegen die menschliche Seele, wenn nicht durch mancherlei zerstörende Revolutionen die Vorsehung unserm Geist wiederum Luft schaffte. In Buchstaben gefesselt, schleicht der Verstand zuletzt mühsam einher; unsere besten Gedanken verstummen in toten schriftlichen Zügen. Dies alles indessen hindert nicht, die Tradition der Schrift als die dauerhafteste, stillste, wirksamste Gottesanstalt anzusehen, dadurch Nationen auf Nationen, Jahrhunderte auf Jahrhunderte wirken und sich das ganze Menschengeschlecht vielleicht mit der Zeit an einer Kette brüderlicher Tradition zusammenfindet.
« Zurück 1 |
2 |
3 Weiter »