ZWEITER ABSCHNITT:
Die Skulptur
Es ist der große geistige Sinn der Griechen, diesen Standpunkt ergriffen und festgehalten zu haben. Zwar kommen auch in der griechischen Skulptur, an welche wir uns vornehmlich halten müssen, Beispiele von mehrfarbigen Statuen vor, doch ist in dieser Beziehung sogleich der Anfang und das Ende der Kunst von dem zu unterscheiden, was sie auf ihrer echten Höhe geleistet hat. In gleicher Weise müssen wir das abrechnen, was sich durch das Traditionelle der Religion in die Kunst, ohne ihr eigentlich anzugehören, hineindrängt. Wie wir schon bei der klassischen Kunstform sahen, daß sie nicht unmittelbar das Ideal, in welchem sie ihre Grundbestimmung zu finden hat, sogleich fertig hinstellt, sondern erst viel Ungehöriges und Fremdes von demselben abstreift, so geht es auch mit der Skulptur. Sie muß manche Vorstufe durchmachen, ehe sie zur Vollendung kommt, und dieser Anfang ist von dem erreichten Gipfelpunkte sehr verschieden. Die ältesten Skulpturwerke sind bemaltes Holz, wie die ägyptischen Idole, und ähnliches gibt es auch bei den Griechen. Dergleichen aber müssen wir von der eigentlichen Skulptur, wenn es darauf ankommt, den Grundbegriff derselben festzustellen, ausschließen. Es soll deshalb hier keineswegs geleugnet werden, daß viele Beispiele von bemalten Statuen vorkommen; je mehr sich aber der Kunstgeschmack läuterte, um so mehr »entlud sich die Skulptur des ihr nicht zusagenden Farbenprunks; mit weisem Bedacht benutzte sie hingegen Licht und Schatten, um größere Weichheit, Ruhe, Deutlichkeit und Wohlgefälligkeit, für das Auge des Beschauers zu erzielen« (Meyer, Geschichte der bildenden Künste bei den Griechen, Bd. l, S. 119*)). Gegen die bloße Einfarbigkeit des Marmors lassen sich freilich nicht nur die vielen Statuen aus Erz, sondern mehr noch die größten und vortrefflichsten Werke anführen, welche, wie z. B. der Zeus des Phidias, mehrfarbig waren. Doch von solche äußersten Abstraktion der Farblosigkeit ist auch nicht die Rede; Elfenbein und Gold aber sind immer noch kein malerischer Gebrauch von Farben, und überhaupt halten die verschiedenen Werke einer bestimmten Kunst in der Wirklichkeit nicht jedesmal den Grundbegriff in so abstrakter Unabänderlichkeit fest; denn sie treten in lebendige Verhältnisse mit mannigfaltigen Zwecken ein, erhalten ein verschiedenartiges Lokal und kommen dadurch mit äußeren Umständen in Zusammenhang, welche den eigentlichen Grundtypus auch wieder modifizieren. So wurden z. B. Skulpturbilder öfters auch aus reichen Stoffen, wie Gold und Elfenbein, gefertigt; sie saßen auf prächtigen Stühlen oder standen auf Postamenten voll Kunst und verschwenderischem Luxus und erhielten köstliche Verzierungen, damit das Volk im Anschauen solcher prachtvollen Werke zugleich den Genuß seiner Macht und seines Reichtums habe. Besonders die Skulptur, weil sie an und für sich schon eine abstraktere Kunst ist, hält sich nicht immer in dieser Abstraktion, sondern bringt einerseits mancherlei Beiwesen des Traditionellen, Statarischen, Lokalen aus ihrem Ursprung mit, andererseits gibt sie sich den lebendigen Bedürfnissen des Volkes hin; denn der regsame Mensch fordert eine ergötzliche Mannigfaltigkeit und will nach vielen Richtungen hin mit seiner Anschauung und Vorstellung beschäftigt sein. Es geht damit wie mit dem Lesen griechischer Tragödien, welches uns auch das Kunstwerk nur in seiner abstrakteren Gestalt gibt. In der weiteren äußerlichen Existenz kommt noch die Aufführung durch lebende Personen, Kostüm, Ausschmückung der Bühne, Tanz und Musik hinzu. In der gleichen Weise ist auch das Skulpturbild in seiner äußeren Realität nicht von mannigfaltigem Beiwerk entblößt; wir aber haben es hier nur mit dem eigentlichen Skulpturwerk als solchem zu tun, denn jene äußeren Seiten dürfen uns nicht hindern, den innersten Begriff der Sache selbst uns in seiner Bestimmtheit und Abstraktion zum Bewußtsein zu bringen.
Gehen wir jetzt zur näheren Einteilung dieses Abschnittes fort, so bildet die Skulptur so sehr den Mittelpunkt der klassischen Kunstform überhaupt, daß wir hier nicht, wie bei Betrachtung der Architektur, das Symbolische, Klassische und Romantische als die durchgreifenden Unterschiede und als Grund der Einteilung annehmen dürfen. Die Skulptur ist die eigentliche Kunst des klassischen Ideals als solchen. Zwar hat die Skulptur auch Stadien, auf welchen sie von der symbolischen Kunstform ergriffen wird, wie in Ägypten z. B. Doch sind dies mehr nur historische Vorstufen und keine Unterschiede, welche den eigentlichen Begriff der Skulptur seinem Wesen nach angingen, insofern diese Gebilde durch die Art ihrer Aufstellung und ihres Gebrauchs eher der Architektur anheimfallen, als sie dem eigentlichen Zwecke der Skulptur angehören. In gleicher Weise geht, wenn die romantische Kunstform in ihr sich ausdrückt, die Skulptur über sich selbst hinaus und erhält erst mit der Nachbildung der griechischen Skulptur ihren eigentümlich plastischen Typus wieder. Wir haben uns deshalb nach einer anderweitigen Einteilung umzusehen.
Den Mittelpunkt unserer Betrachtung wird nach dem Gesagten die Art und Weise abgeben, in welcher das klassische Ideal durch die Skulptur zu seiner angemessensten Wirklichkeit gelangt. Ehe wir aber an diese Entwicklung des idealen Skulpturbildes herantreten können, haben wir vorerst zu zeigen, welcher Inhalt und welche Form dem Standpunkte der Skulptur als besonderer Kunst eigens zukomme und sie deshalb dahin führe, das klassische Ideal in der geistdurchdrungenen menschlichen Gestalt und deren abstrakt-räumlicher Form darzustellen. - Nach der anderen Seite hin beruht das klassische Ideal auf der zwar substantiellen, ebensosehr aber auch in sich besonderten Individualität, so daß die Skulptur nicht das Ideal der menschlichen Gestalt überhaupt zum Inhalt nimmt, sondern das bestimmte Ideal, und dadurch zu unterschiedenen Darstellungsweisen auseinandertritt. Diese Unterschiede betreffen teils die Auffassung und Darstellung als solche, teils aber das Material, in welchem dieselbe wirklich wird und das nun seiner verschiedenen Beschaffenheit nach in die Kunst selbst wieder neue Besonderungen hereinbringt, woran sich sodann, als letzter Unterschied, die Stadien im historischen Entwicklungsgange der Skulptur anschließen.
Nach diesen Rücksichten wollen wir unserer Betrachtung folgenden Verlauf geben:
Erstens haben wir es nur mit den allgemeinen Bestimmungen für die wesentliche Natur des Inhalts und der Form zu tun, die sich aus dem Begriff der Skulptur ergeben;
zweitens dagegen handelt es sich um die nähere Auseinandersetzung des klassischen Ideals, insoweit es durch die Skulptur zu seinem kunstgemäßesten Dasein kommt;
drittens endlich tut sich die Skulptur zu besonderen Arten der Darstellung und des Materials auf und breitet sich zu einer Welt von Werken auseinander, in welchen sich nach der einen und anderen Seite hin auch die symbolische und romantische Kunstform geltend machen, während die klassische die echt plastische Mitte bildet.
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*) Johann Heinrich Meyer, Geschichte der bildenden Künste bei den Griechen (fortgesetzt von Fr. W. Riemer), 3 Bde., Dresden 1824- 36