b. Unterschiede des Alters, Geschlechts, der Götter, Heroen, Menschen, Tiere
Die wahrhaft lebendige Individualität nun aber, insofern sie sich in der Skulptur durch die freie schöne Körpergestalt ausprägen soll, darf sich nicht bloß durch solche Nebendinge wie Attribute, Haarwuchs, Waffen und sonstige Werkzeuge, Keule, Dreizack, Scheffel usf., kundgeben, sondern muß sowohl in die Gestalt selbst als auch in deren Ausdruck eindringen. In solcher Individualisierung nun waren die griechischen Künstler um so feiner und schöpferischer, als die Göttergestalten eben eine wesentlich gleiche substantielle Grundlage hatten, aus welcher nun, ohne sich davon abzutrennen, die charakteristische Individualität so herausgearbeitet werden mußte, daß diese Grundlage darin schlechthin lebendig und gegenwärtig blieb. Vorzüglich ist in den besten antiken Skulpturwerken die feine Aufmerksamkeit zu bewundern, mit welcher die Künstler darauf bedacht waren, jeden der kleinsten Züge der Gestalt und des Ausdrucks in Harmonie mit dem Ganzen zu bringen, eine Aufmerksamkeit, aus welcher dann allein diese Harmonie selber hervorgeht.
Fragen wir weiter nach allgemeinen Hauptunterschieden, welche sich als die nächsten Grundlagen für die bestimmtere Besonderung der Körperformen und ihres Ausdrucks geltend machen können, so ist
α) das erste der Unterschied kindlicher und jugendlicher Gestalten von denen eines späteren Alters. Beim echten Ideal, sagte ich bereits früher, sei jeder Zug, jeder einzelnste Teil der Gestalt ausgedrückt und ebenso das Geradlinige, das sich so fortgehen läßt, die abstrakt ebenen Flächen wie das Zirkelrunde, Verstandesrunde durchaus vermieden und dagegen die lebendige Mannigfaltigkeit der Linien und Formen in der verbindenden Nuancierung ihrer Übergänge aufs schönste durchgebildet. Im kindlichen und jugendlichen Alter nun fließen die Grenzen der Formen mehr unmerklich ineinander und verlaufen sich so sanft, daß man sie, wie Winckelmann sagt (Bd. VII, S. 78), mit der Fläche eines von den Winden nicht beunruhigten Meeres vergleichen kann, von welchem man, obwohl es in steter Bewegung ist, dennoch sagt, daß es still sei. Bei vorgerückterem Alter hingegen treten die Unterscheidungen markierter hervor und müssen zu bestimmterer Charakteristik ausgearbeitet sein. Vortreffliche männliche Gestalten gefallen deshalb beim ersten Anblick auch sogleich mehr, weil alles ausdrucksvoller ist und wir deshalb die Kenntnis, Weisheit und Geschicklichkeit des Künstlers um so schneller bewundern lernen. Denn ihrer Weiche und geringeren Anzahl der Unterschiede wegen scheinen jugendliche Gestalten leichter. In der Tat aber ist das Gegenteil der Fall. Insofern nämlich »die Bildung ihrer Teile zwischen dem Wachstum und der Vollendung gleichsam unbestimmt gelassen ist« (Winckelmann, Bd. VII, S. 80), müssen die Gelenke, Knochen, Sehnen, Muskeln zwar weicher und zarter, dennoch aber ebenso angedeutet werden. Darin feiert eben die alte Kunst ihren Triumph, daß auch an den zartesten Gestalten jedesmal alle Teile und deren bestimmte Organisation in fast unscheinbaren Nuancen von Erhöhung und Vertiefung in einer Weise bemerklich sind, durch welche sich das Wissen und die Virtuosität eines Künstlers nur einem streng forschenden, aufmerksamen Beobachter kundgeben. Wäre z. B. an einer zarten männlichen Figur, wie dem jugendlichen Apoll, nicht mit vollkommener, obschon halb versteckter Einsicht die ganze Struktur des menschlichen Körpers wirklich und gründlich angegeben, so würden die Glieder wohl rund und voll erscheinen, aber zugleich schlaff und ohne Ausdruck und Mannigfaltigkeit, so daß das Ganze schwerlich erfreuen könnte. - Als ein auffallendstes Beispiel des Unterschiedes jugendlicher Körper vom männlichen im späteren Alter sind die Knaben und der Vater in der Gruppe des Laokoon anzuführen.
Im ganzen aber ziehen die Griechen bei Darstellung ihrer Götterideale für Skulpturwerke das noch jugendliche Alter vor und deuten selbst in Köpfen und Statuen des Jupiter oder Neptun kein Greisenalter an.
β) Ein wichtigerer, zweiter Unterschied betrifft das Geschlecht, in welchem die Gestalt dargestellt wird, der Unterschied männlicher und weiblicher Formen. Im allgemeinen läßt sich von den letzteren dasselbe sagen, was ich schon von dem früheren jugendlicheren Alter dem späteren gegenüber in der Kürze angab. Die weiblichen Formen sind zarter, weicher, die Sehnen und Muskeln, obschon sie nicht fehlen dürfen, weniger angedeutet, die Übergänge fließender, sanfter, doch bei der Verschiedenheit des Ausdrucks vom stillen Ernst, der strengeren Macht und Hoheit an bis zur weichsten Anmut und Grazie des Liebreizes höchst nuancenvoll und mannigfaltig. Der gleiche Reichtum der Formen findet in den männlichen Gestalten statt, bei denen noch außerdem der Ausdruck der ausgearbeiteten körperlichen Stärke und des Mutes hinzukommt. Die Heiterkeit des Genusses aber bleibt allen gemeinsam, eine Froheit und selige Gleichgültigkeit, die über alles Besondere hinaus ist, verknüpft zugleich mit einem stillen Zug der Trauer, jenem Lächeln in Tränen, bei dem es weder zum Lächeln noch zur Träne kommt.
Zwischen dem männlichen und weiblichen Charakter ist hier aber nicht durchweg eine strenge Grenze zu ziehen, denn die jugendlicheren Göttergestalten des Bacchus und Apollo gehen oft bis zur Zartheit und Weiche weiblicher Formen, ja zu einzelnen Zügen der weiblichen Organisation fort, ja es gibt selbst Darstellungen des Herkules, in welchen er so jungfräulich gebildet erscheint, daß man ihn mit der lole, seiner Geliebten, verwechselt hat. Diesen Übergang nicht nur, sondern selbst die Verbindung männlicher und weiblicher Formen haben die Alten sodann in den Hermaphroditen ausdrücklich dargestellt.
γ) Drittens endlich fragt es sich nach den Hauptunterschieden, welche in die Skulpturgestalt dadurch hereinkommen, daß sie einem der bestimmten Kreise angehört, die den Gehalt der idealen, für die Skulptur geeigneten Weltanschauung ausmachen.
Die organischen Formen, deren die Skulptur sich in ihrer Plastik überhaupt bedienen kann, sind die Formen des Menschlichen einer- und des Tierischen andererseits. In Rücksicht auf das Tierische haben wir schon gesehen, daß es auf der Höhe der strengeren Kunst nur als Attribut neben die Göttergestalt treten dürfe, wie wir z. B. neben der jagenden Diana eine Hirschkuh finden und neben Zeus den Adler. Ebenso gehören hierher der Panther, Greifen und ähnliche Gebilde. Außer den eigentlichen Attributen erhalten nun aber die tierischen Formen, teils vermischt mit der menschlichen, teils auch selbständige Gültigkeit. Doch ist der Kreis solcher Darstellungen beschränkt. Außer den Bocksformen ist es vornehmlich das Roß, dessen Schönheit und feurige Lebendigkeit sich Eingang in die plastische Kunst verschafft, sei es nun in Vereinigung mit der menschlichen Bildung oder sei es in seiner vollständigen freien Gestalt. Das Pferd steht nämlich überhaupt schon mit dem Mut, der Tapferkeit und Gewandtheit menschlicher Heldenschaft und heroischer Schönheit in nahem Bezüge, während andere Tiere, wie z. B. der Löwe, welchen Herkules, der Eber, den Meleager erlegt, das Objekt dieser heroischen Taten selbst sind und deshalb mit in den Kreis der Darstellung, wenn diese sich zu Gruppen und auf Reliefs zu bewegteren Situationen und Handlungen ausbreitet, einzutreten ein Recht haben.
Das Menschliche seinerseits gibt, insofern es in Form und Ausdruck als reines Ideal gefaßt wird, die gemäße Gestalt für das Göttliche ab, welches, als noch an das Sinnliche gebunden, nicht fähig ist, in die einfache Einheit eines Gottes zusammenzugehen und sich nur durch einen Kreis göttlicher Gebilde auslegen kann. Ebenso aber umgekehrt bleibt das Menschliche sowohl seinem Gehalt als seinem Ausdrucke nach auch im Gebiete der menschlichen Individualität als solcher stehen, obschon dieselbe anderenteils bald mit dem Göttlichen, bald mit dem Tierischen in Verwandtschaft und Einigung gebracht wird.
Hierdurch erhält die Skulptur folgende Gebiete, denen sie ihren Inhalt zur Ausgestaltung entnehmen kann. Als den wesentlichen Mittelpunkt habe ich mehrfach bereits den Kreis der besonderen Götter genannt. Ihr Unterschied von den Menschen besteht vornehmlich darin, daß, wie sie in Rücksicht auf ihren Ausdruck über die Endlichkeit der Sorge und verderblichen Leidenschaft hinaus zur seligen Stille und ewigen Jugend in sich gesammelt erscheinen, nun auch die Körperformen nicht nur von der endlichen Partikularität des Menschlichen gereinigt sind, sondern auch, ohne an Lebendigkeit zu verlieren, dennoch alles, was auf die Notdurft und Bedürftigkeit des sinnlich Lebendigen hindeutet, von sich abstreifen. Ein interessanter Gegenstand z. B. ist es, daß die Mutter ihr Kind stillt; die griechischen Göttinnen aber sind immer kinderlos dargestellt. Juno schleudert den jungen Herkules der Mythe nach von sich und läßt die Milchstraße dadurch entstehen; der majestätischen Gattin des Zeus einen Sohn zuzugesellen war der antiken Anschauung zu niedrig. Selbst Aphrodite erscheint in der Skulptur nicht als Mutter; Amor ist wohl in ihrer Umgebung, doch weniger im Verhältnis des Kindes. Ähnlich wird auch dem Jupiter zur Amme eine Ziege gegeben, und Romulus und Remus werden von einer Wölfin gesäugt. Unter ägyptischen und indischen Bildern dagegen gibt es noch viele, auf welchen Götter von Göttinnen die Muttermilch empfangen. Bei den griechischen Göttinnen ist die Jungfräulichkeit der Gestalt, welche die Naturbestimmung des Weibes am wenigsten hervortreten läßt, überwiegend.
Dies macht einen wichtigen Gegensatz der klassischen Kunst gegen die romantische aus, in welcher die Mutterliebe einen Hauptgegenstand abgibt. Von den Göttern als solchen geht sodann die Skulptur zu den Heroen und jenen Gestalten fort, welche wie die Kentauren, Faune und Satyrfiguren Mischungen von Menschen und Tieren sind.
Die Heroen sind nur durch sehr feine Unterschiede von den Göttern abgegrenzt und ebenso über das bloß Menschliche in seinem gewöhnlichen Dasein erhoben. Von einem Battus auf Münzen von Cyrene sagt Winckelmann z. B.(Bd. IV, S.105), er würde durch einen einzigen Blick zärtlicher Lust einen Bacchus und durch einen Zug von göttlicher Großheit einen Apollo abbilden können. Doch gehen hier die menschlichen Formen, wo es darauf ankommt, die Gewalt des Willens und der Körperkraft darstellig zu machen, besonders in gewissen Teilen aufs Große; in die Muskeln legten die Künstler eine schnelle Wirkung und Regung, und in heftigen Handlungen setzten sie alle Triebfedern der Natur in Bewegung. Indem jedoch an demselben Helden eine ganze Reihe unterschiedener, ja entgegengesetzter Zustände vorkommt, so nähern sich die männlichen Formen auch hier wieder häufig den weiblichen. So z. B. am Achilles bei seinem ersten Erscheinen unter den Mädchen des Lykomedes. Hier tritt er nicht in der Heldenstärke auf, die er vor Troja entfaltet, sondern in Weiberkleidern und einem Reize der Gestalt, der das Geschlecht fast zweifelhaft läßt. Auch Herkules ist nicht immer in dem Ernst und der Kraft zu jenen mühseligen Arbeiten, die er verrichtete, dargestellt, sondern ebenso, wie er der Omphale dient, sowie auch in der Ruhe der Vergötterung und überhaupt in den mannigfaltigsten Situationen. In anderen Beziehungen haben die Heroen oft wieder die größte Verwandtschaft mit den Gestalten der Götter selbst, Achill z. B. mit Mars, und es ist deshalb die Sache des gründlichsten Studiums, aus der Charakterisierung ganz ohne weitere Attribute gleich die bestimmte Bedeutung einer Statue zu erkennen. Dennoch wissen geübte Kunstkenner selbst aus einzelnen Stücken sogleich auf den Charakter und Form der ganzen Gestalt zu schließen und das Fehlende sich zu ergänzen, woraus man wiederum den feinen Sinn und die Konsequenz der Individualisierung in der griechischen Kunst bewundern lernt, deren Meister auch den kleinsten Teil dem Charakter des Ganzen angemessen zu erhalten und auszuführen verstanden.
Was die Satyrn und Faune anbetrifft, so ist in ihren Kreis das hineinverlegt, was von dem hohen Ideal der Götter ausgeschlossen bleibt, menschliches Bedürfnis, Lebensfröhlichkeit, sinnlicher Genuß, Befriedigung der Begierde und dergleichen mehr. Doch sind besonders die jungen Satyrn und Faune von den Alten meist in solcher Schönheit der Gestalt dargestellt, daß, wie Winckelmann behauptet (Bd. IV, S. 78), »eine jede Figur derselben, den Kopf ausgenommen, mit einem Apollo könnte verwechselt werden, sonderlich mit demjenigen, welcher Saurok-tonos heißt und einerlei Stand der Beine mit den Faunen hat«. Am Kopf sind die Faune und Satyrn durch die gespitzten Ohren, die straubigen Haare und kleinen Hörnchen kenntlich.
Zu einem zweiten Kreise schließt sich das Menschliche als solches zusammen. Hierher gehört besonders die menschliche Schönheit der Gestalt, wie sie sich in ihrer durchgebildeten Kraft und Geschicklichkeit in den Kampfspielen kundgibt; Ringer, Diskuswerfer usf. bilden deshalb einen Hauptgegenstand. In solchen Produktionen geht die Skulptur dann schon dem mehr Porträtartigen entgegen, in welchem die Alten jedoch selbst da, wo sie wirkliche Individuen darstellten, noch immer das Prinzip der Skulptur, wie wir es haben kennenlernen, festzuhalten verstanden.
Das letzte Gebiet endlich, das die Skulptur ergreift, ist die Darstellung von Tiergestalten als solchen, besonders Löwen, Hunden usf. Auch in diesem Felde wußten die Alten das Prinzip der Skulptur, das Substantielle der Gestalt aufzufassen und individuell zu verlebendigen, geltend zu machen und gelangten darin zu solcher Vollkommenheit, daß z. B. die Kuh des Myron berühmter geworden ist als selbst seine übrigen Werke. Goethe hat sie in Kunst und Altertum (2. Bd., 1. Heft)*) mit großer Anmut geschildert und vorzüglich darauf aufmerksam gemacht, daß, wie wir schon oben sahen, solche tierische Funktion wie das Säugen hier nur im Felde des Tierischen vorkommt. Alle Einfälle der Dichter in alten Epigrammen entfernt er und betrachtet sinnvoll nur die Naivität der Konzeption, aus der das vertraulichste Bild entspringt.
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*) »Myrons Kuh«, 1818