b. Die Gruppe
Von solchen Anfängen der Richtung nach außen geht dann die Skulptur zur Darstellung bewegterer Situationen, Konflikte und Handlungen und dadurch zu Gruppen fort. Denn mit der bestimmteren Handlung kommt die konkretere Lebendigkeit zum Vorschein, die sich zu Gegensätzen, Reaktionen und damit auch zu wesentlichen Beziehungen mehrerer Figuren und deren Verschlingung auseinanderbreitet.
α) Das Nächste sind jedoch auch hier bloße ruhige Zusammenstellungen, wie z. B. die zwei kolossalen Rossebändiger, die zu Rom auf dem Monte Cavallo stehen und auf Kastor und Pollux gedeutet werden. Man schreibt die eine Statue dem Phidias, die andere dem Praxiteles ohne festen Beweis zu, obschon die hohe Vortrefflichkeit der Konzeption und die zugleich zierliche Gründlichkeit der Ausführung so gewichtige Namen rechtfertigt. Es sind dies nur freie Gruppen, die noch keine eigentliche Handlung oder Folge derselben ausdrücken und für die Skulpturdarstellung und öffentliche Aufstellung vor dem Parthenon, wo sie ursprünglich sollen gestanden haben, ganz geeignet sind.
β) Die Skulptur geht nun aber in der Gruppe ebensosehr zweitens zur Darstellung von Situationen, welche Konflikte, zwiespältige Handlungen, Schmerz usf. zum Inhalte haben, fort. Hier können wir wieder den echten Kunstsinn der Griechen rühmen, welcher dergleichen Gruppen nicht selbständig für sich hinstellt, sondern dieselben, da die Skulptur in ihnen aus ihrem eigentümlichen und deshalb selbständigen Bereich herauszutreten anfängt, in nähere Beziehung auf die Architektur brachte, so daß sie zur Ausschmückung architektonischer Räume dienten. Das Tempelbild als einzelne Statue in kampfloser Ruhe und Heiligkeit stand in der inneren Zelle, welche dieses Skulpturwerks wegen da war; das äußere Giebelfeld dagegen wurde mit Gruppen ausgeschmückt, die nun bestimmte Handlungen des Gottes darstellten und daher zu einer bewegteren Lebendigkeit herausgearbeitet werden durften. Von dieser Art ist die berühmte Gruppe der Niobiden. Die allgemeine Form für die Anordnung ist hier durch den Raum, für welchen sie bestimmt war, gegeben. Die Hauptfigur stand in der Mitte und konnte die größte, hervorstechendste Gestalt sein; die übrigen gegen die spitzen Seitenwinkel des Giebels hin bedurften anderer Stellungen bis zum Liegen.
Von sonstigen bekannten Werken will in nur noch der Gruppe des Laokoon Erwähnung tun. Sie ist vor vierzig oder fünfzig Jahren ein Gegenstand vieler Untersuchungen und weitläufigen Besprechens gewesen. Besonders wurde es als ein wichtiger Umstand angesehen, ob Vergil seine Beschreibung dieser Szene nach dem Skulpturwerk oder der Künstler sein Werk nach der Vergilischen Schilderung gemacht habe, ob ferner Laokoon schreie und ob es sich überhaupt schicke, in der Skulptur einen Schrei ausdrücken zu wollen, und dergleichen mehr. Mit solchen psychologischen Wichtigkeiten hat man sich ehemals herumgetrieben, weil die Winckelmannsche Anregung und der echte Kunstsinn noch nicht durchgedrungen waren und Stubengelehrte ohnehin zu solchen Erörterungen aufgelegter sind, da ihnen häufig ebensosehr die Gelegenheit, wirkliche Kunstwerke zu sehen, als die Fähigkeit, dieselben in der Anschauung aufzufassen, abgeht. Das Wesentlichste, was bei dieser Gruppe in Betracht kommt, ist, daß bei dem hohen Schmerz, der hohen Wahrheit, dem krampfhaften Zusammenziehen des Körpers, dem Bäumen aller Muskeln dennoch der Adel der Schönheit erhalten und zur Grimasse, Verzerrung und Verrenkung auch nicht in der entferntesten Weise fortgegangen ist. Dabei gehört das ganze Werk aber ohne Zweifel dem Geiste des Stoffes, der Künstlichkeit der Anordnung, dem Verständnis der Stellung und der Art der Ausarbeitung nach einer späteren Epoche an, welche die einfache Schönheit und Lebendigkeit schon durch ein gesuchtes Hervorkehren der Kenntnisse im Baue und der Muskulatur des menschlichen Körpers zu überbieten trachtet und durch eine allzu verfeinerte Zierlichkeit der Bearbeitung zu gefallen sucht. Der Schritt von der Unbefangenheit und Größe der Kunst zur Manier ist hier schon getan.
γ) Skulpturwerke nun lassen sich in den mannigfaltigsten Lokalen aufstellen: vor Eingängen in Säulenhallen, auf Vorplätzen, Treppengeländern, in Nischen usf., und eben mit dieser Vielartigkeit des Ortes und der architektonischen Bestimmung, welche ihrerseits wieder einen vielfachen Bezug auf menschliche Zustände und Verhältnisse hat, ändert sich unendlich der Inhalt und Gegenstand der Kunstwerke, der sich in den Gruppen noch mehr dem Menschlichen nähern kann. Doch ist es immer eine mißliche Sache, dergleichen bewegtere, vielgestaltete Gruppen, auch wenn sie keine Konflikte zum Stoff haben, auf die Spitze der Gebäude gegen die freie Luft ohne Hintergrund zu stellen. Bald nämlich ist der Himmel grau, bald blau und blendend hell, so daß die Umrisse der Figuren nicht genau zu sehen sind. Auf diese Umrisse aber, auf die Silhouette kommt es vornehmlich an, indem sie die eigentliche Hauptsache sind, die man erkennt und die das übrige allein verständlich macht. Denn bei einer Gruppe stehen viele Teile der Gestalten der eine vor dem anderen, die Arme z. B. vor dem Leib, ebenso das Bein einer Figur vor dem anderen. Schon dadurch wird in der Entfernung der Umriß solcher Teile undeutlich und unverständlich oder doch viel weniger klar als der Umriß der Teile, welche ganz frei stehen. Man braucht sich nur eine Gruppe auf Papier gezeichnet vorzustellen, so daß von einer Figur einige Glieder stark und scharf hingeschrieben, andere dagegen nur trübe und unbestimmt angedeutet sind. Dieselbe Wirkung tut eine Statue und mehr noch Gruppen, die keinen anderen Hintergrund als die Luft haben: man sieht dann nur eine scharf abgeschnittene Silhouette, in welcher inwendig nur schwächere Andeutungen erkennbar bleiben.
Dies ist der Grund, daß z. B. die Viktoria auf dem Brandenburger Tor zu Berlin nicht nur ihrer Einfachheit und Ruhe wegen von schöner Wirkung ist, sondern sich auch in Rücksicht auf die einzelnen Figuren genau erkennen läßt. Die Pferde stehen weit auseinander, ohne einander zu bedecken, und ebenso hebt sich auch die Gestalt der Viktoria hoch genug über sie hinaus. Der Tieckische*) Apollo dagegen auf seinem von Greifen gezogenen Wagen nimmt sich auf dem Schauspielhause weniger vortrefflich aus, so kunstgerecht sonst auch die ganze Konzeption und Arbeit sein mag. Ich habe durch die Vergünstigung eines Freundes die Figuren in der Werkstatt gesehen; man konnte sich eine herrliche Wirkung versprechen; so wie sie aber jetzt in der Höhe stehen, fällt immer zuviel von dem Umriß einer Gestalt auf die andere, an welcher derselbe nun seinen Hintergrund hat und eine um so weniger freie, deutliche Silhouette erhält, als den Figuren sämtlich die Einfachheit abgeht. Die Greifen, welche ohnehin durch ihre kürzeren Beine nicht so hoch und frei als die Pferde dastehen, haben außerdem Flügel und Apollo seinen Schöpf und die Leier im Arm. Dies alles ist für den Standort zuviel und trägt nur zur Unklarheit der Umrisse bei.
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*) Christian Friedrich Tieck, 1776-1851, Bildhauer