3. Die Skulptur als Kunst des klassischen Ideals
Das Nächste, was aus den bisherigen Betrachtungen folgt, ist, daß die Skulptur mehr als jede andere Kunst eigentümlich an das Ideale gewiesen bleibt. Einerseits nämlich ist sie aus dem Symbolischen sowohl in Rücksicht auf die Klarheit ihres sich selbst als Geist erfassenden Inhalts heraus als auch in betreff auf die vollkommene Gemäßheit ihrer Darstellung mit diesem Gehalte; andererseits geht sie in die Subjektivität des Innerlichen, für welche die Außengestalt gleichgültig wird, noch nicht über. Sie bildet deswegen den Mittelpunkt der klassischen Kunst. Zwar zeigte sich auch das Symbolische und Romantische der Architektur und Malerei für die klassische Idealität geeignet; doch ist das Ideal in seiner eigentlichen Sphäre nicht das höchste Gesetz dieser Kunstformen und Künste, insofern sie nicht, wie die Skulptur, die an und für sich seiende Individualität, den ganz objektiven Charakter, die schöne freie Notwendigkeit zu ihrem Gegenstande haben. Die Gestalt der Skulptur aber muß durchweg aus dem reinen Geiste der von aller Zufälligkeit der geistigen Subjektivität und Körperform abstrahierenden denkenden Einbildungskraft hervorgehen, ohne subjektive Vorliebe für Eigentümlichkeiten, ohne die Empfindung, Lust, Mannigfaltigkeit der Regungen und Witzigkeit der Einfalle. Denn was dem Künstler zu Gebote steht, ist, wie wir sahen, für seine höchsten Gebilde nur die Körperlichkeit des Geistigen in den selbst nur allgemeinen Formen des Baues und Organismus der menschlichen Gestalt; und seine Erfindung beschränkt sich teils auf die ebenso allgemeine Übereinstimmung des Inneren und Äußeren, teils auf die nur leise an das Substantielle sich anschmiegende und sich damit verwebende Individualität der Erscheinung. Die Skulptur muß gestalten, wie die Götter in ihrem eigenen Bereich nach ewigen Ideen schaffen, in der sonstigen Wirklichkeit aber das übrige der Freiheit und Selbstischkeit des Geschöpfes überlassen. Die Theologen machen gleichfalls einen Unterschied zwischen dem, was Gott tue, und dem, was der Mensch in seinem Wahn und seiner Willkür vollbringt; das plastische Ideal jedoch ist erhaben über solche Fragen, indem es in der Mitte dieser Seligkeit und freien Notwendigkeit steht, für welche weder die Abstraktion des Allgemeinen noch die Willkür des Besonderen Gültigkeit und Bedeutung behält.
Dieser Sinn für die vollendete Plastik des Göttlichen und Menschlichen war vornehmlich in Griechenland heimisch. In seinen Dichtern und Rednern, Geschichtsschreibern und Philosophen ist Griechenland noch nicht in seinem Mittelpunkte gefaßt, wenn man nicht als Schlüssel zum Verständnis die Einsicht in die Ideale der Skulptur mitbringt und von diesem Standpunkt der Plastik aus sowohl die Gestalten der epischen und dramatischen Helden als auch der wirklichen Staatsmänner und Philosophen betrachtet. Denn auch die handelnden Charaktere, wie die dichtenden und denkenden, haben in Griechenlands schönen Tagen diesen plastischen, allgemeinen und doch individuellen, nach außen wie nach innen gleichen Charakter. Sie sind groß und frei, selbständig auf dem Boden ihrer in sich selber substantiellen Besonderheit erwachsen, sich aus sich erzeugend und zu dem bildend, was sie waren und sein wollten. Besonders die Zeit des Perikles war reich an solchen Charakteren: Perikles selber, Phidias, Platon und vornehmlich Sophokles, so auch Thukydides, Xenophon, Sokrates, jeder in seiner Art, ohne daß der eine durch die Art des anderen geringer würde; sondern alle schlechthin sind diese hohen Künstlernaturen ideale Künstler ihrer selbst, Individuen aus einem Guß, Kunstwerke, die wie unsterbliche todlose Götterbilder dastehen, an welchen nichts Zeitliches und Todeswürdiges ist. Von gleicher Plastik sind die körperlichen Kunstwerke der Sieger in den olympischen Spielen, ja selbst die Erscheinung der Phryne, die als das schönste Weib vor ganz Griechenland nackt aus dem Wasser emporstieg.