c. Darstellung der einzelnen Götter
Zum Schluß dieses Kapitels haben wir jetzt noch von den einzelnen Individuen, zu deren Charakter und Lebendigkeit die soeben angeführten Unterschiede herausgearbeitet werden, einiges Nähere hauptsächlich von der Darstellung der Götter anzuführen.
α) Wie überhaupt, so könnte man zwar auch in Rücksicht auf die geistigen Götter der Skulptur die Meinung geltend machen wollen, die Geistigkeit sei eigentlich die Befreiung von der Individualität, und so müßten auch die Ideale, je idealer und herrlicher, um desto weniger voneinander als Individuen unterschieden bleiben; aber die erstaunungs-würdig von den Griechen gelöste Aufgabe der Skulptur bestand in dieser Beziehung gerade darin, der Allgemeinheit und Idealität der Götter zum Trotz ihnen dennoch Individualität und Unterscheidbarkeit erhalten zu haben, wie sehr sich freilich in bestimmten Sphären das Bestreben auftut, die festen Grenzen aufzuheben und die besonderen Formen auch in ihrem Übergange darzustellen. Nimmt man nun ferner die Individualität in der Weise, daß gewissen Gottheiten bestimmte Züge gleichsam wie Porträtzüge eigen waren, so scheint dadurch ein fester Typus an die Stelle lebendiger Produktion zu treten und der Kunst zu schaden. Dies ist aber ebensowenig der Fall. Im Gegenteil war die Erfindung in der Individualisierung und Lebendigkeit um so feiner, je mehr ein substantieller Typus derselben zugrunde lag.
β) Was ferner die einzelnen Götter selbst angeht, so liegt die Vorstellung nahe, daß über allen diesen Idealen ein Individuum als ihr Herrscher stehe. Diese Würde und Hoheit hat vor allem Phidias der Gestalt und dem Ausdruck des Zeus beigelegt, doch wird der Vater der Götter und Menschen zugleich mit einem heiteren, gnädigen Blick in thronender Milde hingestellt, in männlichem Alter, nicht mit der Wangenfülle der Jugend, ohne jedoch umgekehrt an irgendeine Härte der Form oder Andeutung der Gebrechlichkeit und des Alters anzustreifen. Am verwandtesten mit Jupiter in Gestalt und Ausdruck sind seine Brüder, Neptun und Pluto, deren interessante Statuen in Dresden z. B. bei aller Eigentümlichkeit dennoch verschieden gehalten sind; Zeus in der Milde der Hoheit, Neptun wilder, Pluto, der mit dem Serapis der Ägypter zusammengeht, düsterer, getrübter.
Wesentlicher von Jupiter unterschieden bleiben Bacchus und Apollo, Mars und Merkur, jene in jugendsicherer Schönheit und Zartheit der Formen, diese männlicher, obschon bartlos; Merkur rüstiger, schlanker, mit besonderer Feinheit der Gesichtszüge; Mars nicht etwa wie Herkules in der Stärke der Muskeln und übrigen Formen, sondern als jugendlicher, schöner Held in idealer Bildung.
Von den Göttinnen will ich nur der Juno, Pallas, Diana und Venus Erwähnung tun.
Wie Zeus unter den männlichen Gottheiten, so hat Juno unter den weiblichen in ihrer Gestalt und im Ausdruck derselben die meiste Hoheit; die großen rundgewölbten Augen sind stolz und gebieterisch, ebenso der Mund, der sie, besonders im Profil gesehen, sogleich kenntlich macht. Im ganzen gibt sie den Eindruck „einer Königin, die herrschen will, verehrt sein und Liebe erwecken muß« (Winckelmann, Bd. IV, S. 116). Pallas dagegen hat den Ausdruck strengerer Jungfräulichkeit und Züchtigkeit; Zärtlichkeit, Liebe und jede Art weiblicher Schwäche ist von ihr ferngehalten, das Auge weniger offen als das der Juno, mäßig gewölbt und in stillem Sinnen etwas gesenkt, wie das Haupt, das sich nicht wie bei der Gattin des Zeus stolz emporrichtet, obschon es mit einem Helm bewaffnet ist.
Von der gleichen Jungfräulichkeit der Gestalt wird Diana abgebildet, doch mit größerem Reiz begabt, leichter, schlanker, wenn auch ohne Selbstgewißheit und Freude über ihre Anmut. Sie steht nicht in ruhiger Betrachtung da, sondern ist meist gehend, vorwärtsdringend vorgestellt, mit geradeaus in die Weite schauendem Auge.
Venus endlich, die Göttin der Schönheit als solcher, ist nebst den Grazien und Hören allein von den Griechen unbekleidet dargestellt worden, wenn auch nicht von allen Künstlern. Bei ihr hat die Nacktheit einen vollwichtigen Grund, weil sie die sinnliche Schönheit und deren Sieg, überhaupt Anmut, Liebreiz, Zärtlichkeit, durch Geist ermäßigt und erhoben, zum Hauptausdruck hat. Ihr Auge, selbst wo sie ernster und erhabener sein soll, ist kleiner als bei Pallas und Juno, nicht in der Länge, doch enger durch das untere, in etwas gehobene Augenlid, wodurch das liebäugelnde Schmachten aufs schönste ausgedrückt ist. Im Ausdruck jedoch ist sie wie in der Gestalt verschieden, bald ernster, mächtiger, bald zierlicher und zärtlicher, bald von reiferem, bald von jugendsicherem Alter. Wie z. B. Winckelmann (Bd. IV, S. 112) die Mediceische Venus mit einer Rose vergleicht, die nach einer schönen Morgenröte beim Aufgang der Sonne aufbricht. Die himmlische Venus dagegen wurde mit einem Diadem, das dem der Juno gleicht und welches auch die Venus victrix trägt, bezeichnet.
γ) Die Erfindung nun dieser plastischen Individualität, deren ganzer Ausdruck durch die Abstraktion der bloßen Form vollständig bewirkt wird, war in dem gleichen Maße einer unübertroffenen Vollendung nur bei den Griechen einheimisch und hat ihren Grund in der Religion selbst. Eine geistigere Religion kann sich mit innerer Betrachtung und Andacht begnügen, so daß für sie Skulpturwerke mehr nur als Luxus und Überfluß gelten; eine so sinnlich anschauende aber wie die griechische muß immer fortproduzieren, indem für sie dies künstlerische Schaffen und Erfinden eine selbst religiöse Tätigkeit und Ersättigung und für das Volk die Anschauung solcher Werke nicht eine bloße Betrachtung ist, sondern selbst zur Religion und zum Leben gehört. Überhaupt taten die Griechen alles fürs Öffentliche und Allgemeine, in welchem jeder seinen Genuß, seinen Stolz, seine Ehre fand. In dieser Öffentlichkeit nun ist die Kunst der Griechen nicht bloß ein Schmuck, sondern ein lebendiges, notwendig zu befriedigendes Bedürfnis, ähnlich wie zu ihrer Glanzzeit bei den Venezianern die Malerei. Daraus allein können wir uns, bei den Schwierigkeiten der Skulptur, die ungeheure Menge von Bildsäulen, diese Wälder von Statuen aller Art erklären, die zu tausend, zweitausend in einer Stadt, in Elis, Athen, Korinth und selbst in jeder geringeren Stadt, und ebenso in Großgriechenland und auf den Inseln in großer Anzahl sich befanden.