c. Vereinigung von rhythmischer Versifikation und Reim


Wenn wir nun aber in der angegebenen Weise die rhythmische Versifikation von dem Reim gesondert und beide einander entgegengesetzt haben, so fragt es sich drittens, ob nicht auch eine Vereinigung beider denkbar und wirklich eingetreten sei. In betreff hierauf werden hauptsächlich einige neuere Sprachen von Wichtigkeit. Bei ihnen nämlich ist weder eine Wiederaufnahme des rhythmischen Systems noch in gewisser Rücksicht eine Verbindung desselben mit dem Reime schlechthin zu leugnen. Bleiben wir z. B. bei unserer eigenen Muttersprache stehen, so brauche ich in ersterer Rücksicht nur an Klopstock zu erinnern, der vom Reim wenig wissen wollte und sich dagegen sowohl in der epischen als auch in der lyrischen Poesie den Alten mit großem Ernst und unermüdlichem Fleiße nachbildete. Voß und andere folgten ihm und suchten für diese rhythmische Behandlung unserer Sprache nach immer festeren Gesetzen. Goethe dagegen war es nicht geheuer bei seinen antiken Silbenmaßen, und er fragte nicht mit Unrecht:

 

Stehn uns diese weiten Falten

Zu Gesichte wie den Alten?

 

α) Ich will in dieser Rücksicht nur an das wieder anknüpfen, was ich oben bereits über den Unterschied der alten und neueren Sprachen gesagt habe. Die rhythmische Versifikation beruht auf der natürlichen Länge und Kürze der Silben und hat hieran von Hause aus einen festen Maßstab, welchen der geistige Nachdruck weder bestimmen noch verändern und wankend machen kann. Solch ein Naturmaß dagegen entbehren die neueren Sprachen, indem in ihnen erst der Wortakzent der Bedeutung eine Silbe den anderen gegenüber, denen diese Bedeutsamkeit abgeht, lang machen kann. Dies Prinzip der Akzentuierung nun aber liefert für die natürliche Länge und Kürze keinen gehörigen Ersatz, weil es die Längen und Kürzen selbst wieder schwankend läßt. Denn die nachdrücklichere Bedeutsamkeit eines Worts kann ebensosehr ein anderes, das für sich genommen einen Wortakzent hat, doch wieder zur Kürze herabsetzen, so daß der angegebene Maßstab überhaupt relativ wird. »Du liebst« kann z. B. nach Verschiedenheit des Nachdrucks, der dem Sinne zufolge beiden Wörtern oder dem einen und anderen zugeteilt werden muß, ein Spondeus, Jambus oder Trochäus sein. Man hat es zwar versucht, auch in unserer Sprache auf die natürliche Quantität der Silben zurückzukommen und für dieselbe Regeln festzustellen, doch lassen sich dergleichen Bestimmungen bei dem Übergewichte, das die geistige Bedeutung und deren heraushebender Akzent gewonnen hat, nicht durchführen. Und in der Tat liegt dies auch in der Natur der Sache selbst. Denn soll das natürliche Maß die Grundlage bilden, so muß die Sprache sich noch nicht in der Weise vergeistigt haben, in welcher dies heutigentags notwendig der Fall ist. Hat sie sich aber bereits in ihrer Entwicklung zu solcher Herrschaft der geistigen Bedeutung über das sinnliche Material emporgerungen, so ist der Bestimmungsgrund für den Wert der Silben nicht aus der sinnlichen Quantität selbst, sondern aus dem zu entnehmen, für was die Wörter das bezeichnende Mittel sind.

Der empfindenden Freiheit des Geistes widerstrebt es, das zeitliche Moment der Sprache sich in seiner objektiven Realität selbständig für sich festsetzen und gestalten zu lassen.

β) Damit soll jedoch nicht gesagt sein, daß wir aus unserer Sprache die reimlose rhythmische Behandlung der Silbenmaße ganz verbannen müßten; aber es ist wesentlich, darauf hinzudeuten, daß es der Natur der heutigen Sprachausbildung gemäß nicht möglich ist, das Plastische des Metrums in der gediegenen Weise der Alten zu erreichen. Es muß daher als Ersatz ein anderes Element herzutreten und sich ausbilden, das an und für sich schon geistigerer Art ist als die feste natürliche Quantität der Silben. Dies Element ist der Akzent des Verses sowie der Zäsur, welche jetzt, statt sich unabhängig von dem Wortakzent fortzubewegen, mit demselben zusammenfallen und dadurch eine bedeutendere, wenn auch abstraktere Heraushebung erhalten, da die Mannigfaltigkeit jener dreifachen Akzentuierung, die wir in der alten Rhythmik fanden, durch dieses Aufeinandertreffen notwendig verlorengeht. Aus dem gleichen Grunde werden sich aber zu günstigem Gelingen nur die schärfer ins Ohr fallenden Rhythmen der Alten nachbilden lassen, indem für die feineren Unterschiede und mannigfacheren Verbindungen die feste quantitative Grundlage fehlt und die gleichsam plumpere Akzentuierung, welche dafür als das Bestimmende eintritt, keine Ersatzmittel in sich hat.

γ) Was nun endlich die wirkliche Verbindung des Rhythmischen und des Reims betrifft, so ist auch sie, obschon in noch beschränkterem Grade als das Hineinziehen der alten Versmaße in die neuere Versifika-tion, zu gestatten. αα) Denn die vorwaltende Unterscheidung der Längen und Kürzen durch den Wortakzent ist nicht durchweg ein genugsam materielles Prinzip und beschäftigt das Ohr von der sinnlichen Seite her nicht überall in dem Maße, daß es nicht bei dem Überwiegen der geistigen Seite der Poesie nötig würde, das Klingen und Widerklingen von Silben und Wörtern als Ergänzung herbeizurufen.

ββ) Zugleich muß dann aber in Ansehung des Metrischen dem Reimklange und seiner Stärke auch ein gleich starkes Gegengewicht gegenübergestellt werden. Insofern es nun aber nicht der quantitative Naturunterschied der Silben und dessen Mannigfaltigkeit ist, welche sich auseinanderlegen soll und vorwalten darf, so kann es in Rücksicht auf dies Zeitverhältnis nur bis zur gleichen Wiederholung desselben Zeitmaßes kommen, wodurch der Takt sich hier in einer weit stärkeren Weise, als dies in dem rhythmischen Systeme zulässig ist, geltend zu machen anfängt. Von dieser Art sind z. B. unsere deutschen gereimten Jamben und Trochäen, welche wir beim Rezitieren taktmäßiger als die reimlosen Jamben der Alten zu skandieren pflegen, obschon das Einhalten bei Zäsuren, das Herausheben einzelner, durch den Sinn hauptsächlich zu betonender Wörter und das Liegenbleiben auf ihnen wieder einen Gegenstoß gegen die abstrakte Gleichheit und dadurch eine belebende Mannigfaltigkeit hervorbringen kann. Wie denn auch überhaupt das Festhalten des Taktes in der Poesie nie so streng kann in Ausübung gebracht werden, als es in den meisten Fällen in der Musik erforderlich ist.

γγ) Wenn sich nun aber der Reim im allgemeinen schon nur mit solchen Versmaßen zu verbinden hat, welche ihrer einfachen Abwechslung der Längen und Kürzen und der steten Wiederkehr gleichartiger Versfüße wegen für sich genommen in den rhythmisch behandelten neueren Sprachen das sinnliche Element nicht stark genug ausgestalten, so würde die Anwendung des Reims bei den reicheren, den Alten nachgebildeten Silbenmaßen, wie z. B., um nur eins anzuführen, bei der alkäischen und sapphischen Strophe, nicht nur als ein Überfluß, sondern sogar als ein unaufgelöster Widerspruch erscheinen. Denn beide Systeme beruhen auf entgegengesetzten Prinzipien, und der Versuch, sie in der angeführten Weise zu vereinigen, könnte sie nur in dieser Entgegensetzung selber verbinden, was nichts als einen unaufgehobenen und deshalb unstatthaften Widerspruch hervorbringen würde. In dieser Hinsicht ist der Gebrauch der Reime nur da zuzugeben, wo das Prinzip der alten Versifikation sich nur noch in entfernteren Nachklängen und nach wesentlichen, aus dem System des Reimens hervorgehenden Umwandlungen geltend machen soll.

Dies sind die wesentlichen Punkte, die sich in Ansehung des poetischen Ausdrucks im Unterschiede der Prosa im allgemeinen feststellen lassen.


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