b. Der Reim
γγ) Als einzig möglicher Ersatz für diesen Verlust bietet sich hier nun der Reim dar. Ist es nämlich einerseits nicht mehr die Zeitdauer, die zur Gestaltung kommt und durch welche sich der Klang der Silben in gleichmäßiger und natürlicher Gültigkeit hindurch ergießt, während andererseits die geistige Bedeutung sich der Stammsilben bemächtigt und sich mit denselben ohne weitere organische Ausbreitung in eine gedrungene Einheit setzt, so bleibt als letztes sinnliches Material, das sowohl von dem Zeitmaß als auch von dieser Akzentuierung der Stammsilben sich frei halten kann, allein nur noch das Klingen der Silben übrig.
Dies Klingen aber, um für sich Aufmerksamkeit erregen zu können, muß erstens viel stärkerer Art sein als die Abwechslung verschiedener Laute, wie wir sie in den alten Versmaßen finden, und hat mit weit überwiegenderer Gewalt aufzutreten, als das Tönen der Silben in dem sonstigen Sprechen in Anspruch nehmen darf, indem es jetzt nicht allein das gegliederte Zeitmaß ersetzen soll, sondern auch die Aufgabe erhält, das sinnliche Element im Unterschiede jener Herrschaft der akzentuierenden und alles überflügelnden Bedeutung herauszuheben. Denn ist einmal die Vorstellung zu der Innerlichkeit und Vertiefung des Geistes in sich gelangt, für welche im Sprechen die sinnliche Seite gleichgültig wird, so muß das Tönen sich materieller aus dieser Innerlichkeit herausschlagen und gröber sein, um überhaupt nur auffallen zu können. Den zarten Bewegungen des rhythmischen Wohlklangs gegenüber ist deshalb der Reim ein plumpes Klingen, das keines in so feiner Weise ausgebildeten Ohres bedarf, als die griechische Versifikation es nötig macht.
Zweitens trennt sich zwar der Reim hier nicht von der geistigen Bedeutsamkeit sowohl der Stammsilben als solcher als auch der Vorstellungen im allgemeinen ab, doch verhilft er zugleich dem sinnlichen Klange zu einer relativ selbständigen Gültigkeit. Dies Ziel ist nur zu erreichen möglich, wenn das Tönen bestimmter Wörter sich für sich vom Erklingen der anderen Wörter abscheidet und nun in dieser Isolierung ein unabhängiges Dasein gewinnt, um in kräftigen materiellen Schlägen das Sinnliche wieder zu seinem Rechte zu bringen. Der Reim ist insofern dem durchgängigen rhythmischen Wohllaut gegenüber ein vereinzelt herausgehobenes ausschließliches Tönen.
Drittens sahen wir, daß es die subjektive Innerlichkeit sei, welche sich in ihrer ideellen Zusammenziehung in diesen Klängen ergehen und genügen sollte. Fallen nun aber die bisher betrachteten Mittel der Versifikation und deren reiche Mannigfaltigkeit fort, so bleibt nach der sinnlichen Seite hin für dieses Sichvernehmen nur das formellere Prinzip der Wiederholung ganz gleicher oder ähnlicher Klänge übrig, womit sich dann von selten des Geistes her wieder das Herausheben und Beziehen verwandter Bedeutungen im Reimklang der sie bezeichnenden Wörter verbinden kann. Das Metrum der rhythmischen Versifikation erwies sich als ein vielfach gegliedertes Verhältnis unterschiedener Längen und Kürzen, der Reim dagegen ist einerseits zwar materieller, andererseits aber in diesem Materiellen selbst abstrakter: die bloße Erinnerung des Geistes und Ohrs an die Wiederkehr gleicher oder verwandter Laute und Bedeutungen, eine Wiederkehr, in welcher das Subjekt sich seiner selbst bewußt wird und sich darin als die setzende und vernehmende Tätigkeit erkennt und befriedigt.
γ) Was nun zum Schluß die besonderen Arten angeht, zu welchen sich dies neue System der vornehmlich romantischen Poesie auseinanderlegt, so will ich nur ganz kurz das Wichtigste in Rücksicht auf die Alliteration, die Assonanz und den eigentlichen Reim berühren.
αα) Die Alliteration erstens finden wir am durchgängigsten in der älteren skandinavischen Poesie ausgebildet, in welcher sie eine Hauptgrundlage abgibt, während die Assonanz und der Endreim, obschon auch diese eine nicht unbedeutende Rolle spielen, nur in gewissen Versarten vorkommen. Das Prinzip des Stabreims, Buchstabenreims ist das unvollständigste Reimen, weil es nicht die Wiederkehr ganzer Silben fordert, sondern nur auf die Wiederholung ein und desselben Buchstabens, und zwar des Anfangsbuchstabens dringt. Bei der Schwäche dieses Gleichklangs ist es deshalb einerseits notwendig, daß nur solche Wörter zu diesem Behufe gebraucht werden, welche schon an und für sich auf ihrer Anfangssilbe einen hervorhebenden Akzent haben; andererseits müssen diese Wörter nicht weit auseinanderstehen, wenn sich die Gleichheit ihres Anfangs noch wesentlich dem Ohre soll bemerkbar machen. Im übrigen kann der alliterierende Buchstabe sowohl ein doppelter oder einfacher Konsonant als auch ein Vokal sein, doch machen die Konsonanten der Natur der Sprache gemäß, in welcher die Alliteration vorwaltet, die Hauptsache aus. Aus diesen Bedingungen hat sich für die isländische Poesie (Die Verslehre der Isländer von [Rasmus Christian] Rask, verdeutscht von Mohnike, Berlin 1830, S. 14-17) die Hauptregel festgestellt, daß alle Reimstäbe betonte Silben verlangen, deren Anfangsbuchstaben nicht auch in anderen Hauptwörtern, die auf ihrer ersten Silbe den Akzent tragen, in denselben Zeilen vorkommen darf, während von den drei Wörtern, deren erster Buchstabe den Reim bildet, zwei in der ersten, das dritte, welches den regelnden Hauptstab abgibt, im Beginn der zweiten Zeile stehen muß. Außerdem werden bei der Abstraktion dieses Gleichklangs bloßer Anfangsbuchstaben vornehmlich die ihrer Bedeutung nach wichtigeren Wörter zu Stabreimen gebraucht, so daß es auch hier nicht an einer Beziehung des Tönens und Sinnes der Wörter durchaus fehlt. Das Nähere jedoch muß ich übergehen.
ββ) Die Assonanz zweitens betrifft nicht den Anfangsbuchstaben, sondern geht schon dem Reim entgegen, insofern sie eine gleichklingende Wiederholung derselben Buchstaben in der Mitte oder an dem Ende verschiedener Wörter ist. Diese assonierenden Wörter brauchen nun zwar nicht schlechthin den Schluß eines Verses auszumachen, sondern können auch wohl an anderen Stellen vorkommen, hauptsächlich aber treten die Schlußsilben der Zeilen durch die Gleichheit einzelner Buchstaben - im Unterschiede der Alliteration, welche den Hauptstab an den Anfang des Verses stellt - in einen assonierenden Bezug aufeinander. Seiner reichhaltigsten Ausbildung nach weist dieses Assonieren nach den romanischen Völkern, den Spaniern vornehmlich, hin, deren volltönende Sprache sich insbesondere für die Wiederkehr derselben Vokale geeignet zeigt. Im allgemeinen zwar ist die Assonanz auf die Vokale beschränkt; indessen darf sie teils gleiche Vokale, teils auch gleiche Konsonanten, teils auch Konsonanten in Verbindung mit einem Vokale widerklingen lassen.
γγ) Was nun in dieser Weise Alliteration und Assonanz nur unvollständig herauszustellen befugt sind, bringt endlich der Reim zur reifsten Erscheinung. Denn bei ihm tritt bekanntlich mit Ausnahme der Anfangsbuchstaben der vollständige Gleichklang ganzer Stämme hervor, welche dieser Gleichheit wegen in eine ausdrückliche Beziehung ihres Tönens gebracht werden. Auf die Anzahl der Silben kommt es hierbei nicht an; sowohl einsilbige als auch zwei- und mehrsilbige Wörter können und dürfen sich reimen, wodurch einerseits der männliche Reim, der sich auf einsilbige Wörter beschränkt, andererseits der weibliche entsteht, der zu zweisilbigen fortschreitet, sowie drittens der sogenannte gleitende Reim, der sich über drei und mehrere Silben hin erstreckt. Zu dem ersteren neigen sich besonders die nordischen Sprachen, zum zweiten die südlichen, wie das Italienische und Spanische; das Deutsche und Französische mag so ziemlich die Mitte halten; mehr als dreisilbige Reime sind in größerer Anzahl nur in wenigen Sprachen zu finden.
Seine Stellung erhält der Reim am Ende der Zeilen, an welchem das reimende Wort, obschon es nicht etwa jedesmal den geistigen Nachdruck der Bedeutung in sich zu konzentrieren nötig hat, dennoch in Ansehung des Klanges die Aufmerksamkeit auf sich zieht und die einzelnen Verse nun entweder nach dem Gesetze einer ganz abstrakt gleichen Wiederkehr desselben Reims aufeinanderfolgen läßt oder sie durch die künstlichere Form regelmäßiger Abwechslung und mannigfaltiger symmetrischer Verschlingungen verschiedener Reime zu den vielfältigsten, bald näheren, bald ferneren Verhältnissen vereinigt, trennt und bezieht. In solcher Relation scheinen sich dann die einzelnen Reime gleichsam unmittelbar zu finden oder einander zu fliehen und sich dennoch zu suchen, so daß sie in dieser Weise nun auch der lauschenden Erwartung des Ohrs bald ohne weiteres genügen, bald dieselbe durch längeres Ausbleiben necken, täuschen, spannen, durch regelmäßige Ordnung und Wiederkehr aber immer wieder zufriedenstellen. Unter den besonderen Arten der Dichtkunst ist es vornehmlich die lyrische Poesie, welche ihrer Innerlichkeit und subjektiven Ausdrucksweise wegen sich am liebsten des Reimes bedient und dadurch das Sprechen selbst schon zu einer Musik der Empfindung und melodischen Symmetrie, nicht des Zeitmaßes und der rhythmischen Bewegung, sondern des Klanges macht, aus welchem das Innere sich selber vernehmlich entgegentönt. Deshalb bildet sich auch diese Art, den Reim zu gebrauchen, zu einer einfacheren oder mannigfaltigeren Gliederung von Strophen aus, die sich jede für sich zu einem geschlossenen Ganzen abrunden; wie z. B. die Sonette und Kanzonen, das Madrigal und Triolett solch ein teils empfindungsreiches, teils scharfsinniges Spielen mit Tönen und Klängen sind. Die epische Poesie dagegen, wenn sie ihren Charakter mit lyrischen Elementen weniger untermischt, hält mehr ein in seinen Verschlingungen gleichmäßiges Weiterschreiten fest, ohne sich zu Strophen abzuschließen: wofür die Terzinen des Dante in seiner Göttlichen Komödie im Unterschiede seiner lyrischen Kanzonen und Sonette ein Beispiel an die Hand geben können. Doch will ich mich in das einzelne nicht weiter verlieren.