1. Die Fabel

 

b) Nun finden sich aber unter den Äsopischen auch eine Menge von Fabeln, welche in Erfindung und Ausführung von großer Dürftigkeit, vor allem aber bloß für den Zweck der Lehre erfunden sind, so daß die Tiere oder auch Götter nur zur Einkleidung gehören. Doch sind sie davon entfernt, der Tiernatur Gewalt anzutun, wie es etwa bei modernen der Fall ist: wie die Pfeffelschen*) Fabeln von einem Hamster, der im Herbst einen Vorrat einsammelte, welche Vorsicht ein anderer unterlassen haben und darauf zum Betteln und Verhungern herabgebracht worden sein soll; oder vom Fuchs, Spürhund und Luchs, von denen erzählt wird, daß sie mit ihren einseitigen Talenten der List, des feinen Geruchs und scharfen Gesichts vor Jupiter traten, um eine gleiche Verteilung ihrer Naturgaben zu erlangen, nach deren Bewilligung es aber heißt: »Der Fuchs ist vor den Kopf geschlagen, der Spürhund taugt nicht mehr zum Jagen, der Argus Luchs bekommt den Star.« Daß der Hamster keine Früchte einträgt, daß diese drei anderen Tiere in den Zufall oder in die Natur der Gleichmäßigkeit jener Eigenschaften geraten, ist der Natur ganz und gar zuwider und dadurch matt. Besser als diese Fabeln ist deshalb die von der Ameise und der Zikade, besser als diese wieder die vom Hirsch mit den prächtigen Geweihen und den dünnen Läufen.

In dem Sinne solcher Fabeln ist man es denn auch gewohnt geworden, in der Fabel überhaupt sich die Lehre als das erste so vorzustellen, daß das erzählte Ereignis selbst bloße Einkleidung und deshalb eine zum Behüte der Lehre ganz erdichtete Begebenheit sei. Solche Einkleidungen aber, besonders wenn der beschriebene Vorfall sich unter bestimmten Tieren ihrem Naturcharakter nach gar nicht hat zutragen können, sind höchst matte, weniger als nichts bedeutende Erfindungen. Denn das Sinnreiche einer Fabel besteht nur darin, dem sonst schon Daseienden und Gestalteten nun auch noch einen allgemeineren Sinn außer dem, welchen es unmittelbar hat, zuzuteilen. - Weiter sodann hat man in der Voraussetzung, das Wesen der Fabel sei allein darin zu suchen, daß Tiere anstatt der Menschen handeln und sprechen, die Frage aufgeworfen, was das Anziehende von diesem Tausche ausmache. Viel Anziehendes jedoch kann in solchem Ankleiden eines Menschen als Tier nicht liegen, wenn es noch mehr oder etwas anderes als in einer Affen- und Hundekomödie sein soll, wo im Gegenteil der Kontrast der tierischen Natur mit ihrem Aufsehen und menschlichen Tun, außer dem Anblick der Geschicklichkeit der Dressur, das einzige Interesse bleibt. Breitinger**) führt daher das Wunderbare als den eigentlichen Reiz an. In den ursprünglichen Fabeln aber ist das Auftreten von redenden Tieren nicht als etwas Ungewöhnliches und Wunderbares hingestellt; weshalb auch Lessing meint, die Einführung der Tiere gewähre einen großen Vorteil für die Verständlichkeit und Abkürzung der Exposition durch die Bekanntschaft mit den Eigenschaften der Tiere, mit der List des Fuchses, der Großmut des Löwen, der Gefräßigkeit und Gewalttätigkeit des Wolfes, so daß an die Stelle der Abstraktionen: listig, großmütig, sogleich ein bestimmtes Bild vor die Vorstellung trete. Dieser Vorteil ändert jedoch nichts Wesentliches an dem trivialen Verhältnisse der bloßen Einkleidung, und im ganzen ist es sogar unvorteilhaft, uns Tiere statt Menschen vorzuführen, weil die Tiergestalt dann immer eine Maske bleibt, welche die Bedeutung in betreff auf ihre Verständlichkeit ebensosehr verhüllt als erklärt. - Die größte Fabel dieser Art wäre dann die alte Geschichte von Reineke, dem Fuchs, die aber keine eigentliche Fabel als solche ist.

c) Als eine dritte Stufe nämlich können wir noch folgende Behandlungsweise der Fabel sich hier anschließen lassen, mit welcher wir jedoch den Kreis der Fabel schon zu überschreiten anfangen. Das Sinnreiche einer Fabel liegt überhaupt darin, unter den mannigfaltigen Naturphänomenen Fälle zu finden, welche zum Beleg für allgemeine Reflexionen über das menschliche Handeln und Benehmen zu dienen imstande sind, obschon das Tierische und Natürliche der eigentlichen Art und Weise seiner Existenz nicht entrückt wird. Im übrigen aber bleibt das Zusammenstellen und Beziehen der sogenannten Moral und des einzelnen Falls nur die Sache der Willkür und des subjektiven Witzes und ist deshalb an sich nur die Sache des Scherzes. Diese Seite ist es nun, welche für sich auf dieser dritten Stufe hervortritt. Die Fabelform wird als Scherz genommen. Goethe hat in dieser Weise viele anmutige und sinnreiche Gedichte gemacht. In dem einen, »Kläffer« überschriebenen, heißt es z. B.:

 

Wir reiten in die Kreuz und Quer

Nach Freuden und Geschäften;

Doch immer kläfft es hinterher

Und bellt aus allen Kräften.

So will der Spitz aus unserm Stall

Uns immerfort begleiten,

Und seines Bellens lauter Schall

Beweist nur, daß wir reiten.

 

Dazu gehört denn aber, daß die gebrauchten Naturgestalten ihrem eigentümlichen Charakter nach, wie in der Äsopischen Fabel, vorgeführt werden und uns in ihrem Tun und Treiben menschliche Zustände, Leidenschaften, Charakterzüge entwickeln, welche mit den tierischen die nächste Verwandtschaft haben. Von dieser Art ist der erwähnte Reineke, welcher mehr etwas Märchenhaftes als eine eigentliche Fabel ist.

Den Inhalt gibt eine Zeit der Unordnung und Regellosigkeit ab, der Schlechtigkeit, Schwäche, Niederträchtigkeit, Gewalt und Frechheit, des Unglaubens im Religiösen, der nur scheinbaren Herrschaft und Gerechtigkeit im Weltlichen, so daß List, Klugheit und Eigennutz überall den Sieg davontragen. Es sind die Zustände des Mittelalters, wie sie besonders in Deutschland sich ausgebildet hatten. Die mächtigen Vasallen zeigen zwar vor dem Könige einigen Respekt, im Grund aber tut jeder, was er will, raubt, mordet, unterdrückt die Schwachen, betrügt den König, weiß sich die Gunst der Frau Königin zu erwerben, so daß das Ganze nur eben zusammenhält. Dies ist der menschliche Inhalt, welcher hier aber nicht etwa in einem abstrakten Satze, sondern in einer Totalität von Zuständen und Charakteren besteht und seiner Schlechtigkeit wegen sich ganz für die tierische Natur, in deren Form er sich entfaltet, als passend erweist. Deshalb hat es nichts Störendes, wenn wir ihn ganz offen in das Tierische hineingelegt finden, während die Einkleidung auch nicht etwa als ein bloß einzelner verwandter Fall erscheint, sondern dieser Singularität enthoben wird und eine gewisse Allgemeinheit erhält, durch welche uns anschaulich wird: so geht's überhaupt zu in der Welt. Das Possierliche liegt nun in dieser Einkleidung selber, deren Scherz und Spaß mit dem bitteren Ernst der Sache gemischt ist, indem sie die menschliche Gemeinheit aufs treffendste in der tierischen zur Anschauung bringt und auch in dem bloß Tierischen eine Menge der ergötzlichsten Züge und eigentümlichsten Geschichten heraushebt, so daß wir aller Herbigkeit zum Trotz keinen schlechten und bloß gewollten, sondern einen wirklichen, ernstlich gemeinten Scherz vor uns haben.

 

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*) Gottlieb Konrad Pfeffel, 1736 -1809, Fabeldichter

**) Johann Jakob Breitinger, 1701 -1776, schweizerischer Schriftsteller

 


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