1. Die Fabel

 

Indem bisher immer nur von dem Formellen der Beziehung einer ausdrücklichen Bedeutung auf ihre Gestalt die Rede gewesen ist, haben wir jetzt nun auch den Inhalt anzugeben, der sich für diese Gestaltungsweise passend erweist.

Von selten der Erhabenheit her sahen wir bereits, daß es der jetzigen Stufe nicht mehr darauf ankommt, das Absolute und Eine durch die Nichtigkeit und Unerheblichkeit der erschaffenen Dinge in seiner ungeteilten Macht zu veranschaulichen, sondern daß wir uns auf der Stufe der Endlichkeit des Bewußtseins und damit auch der Endlichkeit des Inhalts befinden. Wenden wir uns umgekehrt zu dem eigentlichen Symbol, von welchem die vergleichende Kunstform ebenfalls eine Seite in sich aufnehmen sollte, so ist das Innere, welches der bisher immer noch unmittelbaren Gestalt, dem Natürlichen, gegenübertritt, wie wir schon bei dem ägyptischen Symbolisieren sahen, das Geistige. Indem nun jenes Natürliche als selbständig gelassen und vorgestellt wird, so ist auch das Geistige ein endlich bestimmtes', der Mensch und seine endlichen Zwecke; und das Natürliche erhält eine - jedoch theoretische - Bezüglichkeit auf diese Zwecke, eine Andeutung und Offenbarung derselben zum Besten und Nutzen des Menschen. Die Erscheinungen der Natur, Gewitter, Vögelflug, Beschaffenheit der Eingeweide usf., werden deshalb jetzt in einem ganz anderen Sinne aufgenommen als in den Anschauungen der Parsen, Inder oder Ägypter, für welche das Göttliche noch in der Weise mit dem Natürlichen vereint ist, daß der Mensch in der Natur in einer Welt voll Göttern umherwandelt und sein eigenes Tun darin besteht, in seinem Handeln dieselbe Identität hervorzubringen; wodurch denn dies Tun, insofern es dem natürlichen Sein des Göttlichen angemessen ist, selber als ein Offenbaren und Hervorbringen des Göttlichen im Menschen erscheint. Wenn der Mensch aber in sich zurückgegangen ist und seine Freiheit ahnend sich in sich zusammenschließt, so wird er sich selber Zweck in seiner Individualität; er tut, handelt, arbeitet nach seinem eigenen Willen, er hat ein eigenes selbstisches Leben und fühlt die Wesentlichkeit von Zwecken in sich selbst, auf welche das Natürliche eine äußerliche Beziehung erhält. Deshalb vereinzelt sich die Natur nun um ihn her und dient ihm, so daß er in Rücksicht auf das Göttliche in ihr nicht mehr die Anschauung des Absoluten gewinnt, sondern sie nur als ein Mittel betrachtet, durch welches sich die Götter zum Besten seiner Zwecke zu erkennen geben, indem sie ihren Willen dem menschlichen Geist durch das Medium der Natur enthüllen und diesen Willen selber von Menschen erklären lassen. Hier ist also eine Identität des Absoluten und Natürlichen vorausgesetzt, in welcher die menschlichen Zwecke die Hauptsache ausmachen. Diese Art der Symbolik nun aber gehört noch nicht zur Kunst, sondern bleibt religiös. Denn der vates unternimmt jene Deutung natürlicher Ereignisse nur vornehmlich für praktische Zwecke, sei es im Interesse einzelner Individuen in betreff auf partikuläre Pläne oder des ganzen Volks in Rücksicht auf gemeinsame Taten. Die Poesie dagegen hat auch die praktischen Lagen und Verhältnisse in einer allgemeineren theoretischen Form zu erkennen und auszusprechen.

Was aber hierher muß gerechnet werden, ist eine Naturerscheinung, eine Vorfallenheit, welche ein besonderes Verhältnis, einen Verlauf enthält, der als Symbol für eine allgemeine Bedeutung aus dem Kreise des menschlichen Tuns und Treibens, für eine sittliche Lehre, einen Klugheitssatz genommen werden kann, für eine Bedeutung also, die zu ihrem Inhalt eine Reflexion über die Art und Weise hat, wie es in menschlichen Dingen, d. i. in Sachen des Willens, zugeht oder zugehen sollte. Hier ist es nicht mehr der göttliche Wille, der sich seiner Innerlichkeit nach dem Menschen durch Naturereignisse und deren religiöse Deutung offenbar macht, sondern ein ganz gewöhnlicher Verlauf natürlicher Vorfälle, aus dessen vereinzelter Darstellung sich in menschlich verständlicher Weise ein sittlicher Satz, eine Warnung, Lehre, Klugheitsregel abstrahieren läßt und der um dieser Reflexion willen vorgeführt und der Anschauung dargeboten wird.

Dies ist die Stellung, welche wir hier der Äsopischen Fabel geben können.

a) Die Äsopische Fabel nämlich in ihrer ursprünglichen Gestalt ist solches Auffassen eines natürlichen Verhältnisses oder Ereignisses zwischen einzelnen natürlichen Dingen überhaupt, am meisten zwischen Tieren, deren Triebe aus denselben Bedürfnissen des Lebens stammen, die den Menschen als lebendigen bewegen. Dieses Verhältnis oder Ereignis, in seinen allgemeineren Bestimmungen aufgefaßt, ist dadurch von der Art, daß es auch im Kreise des menschlichen Lebens vorkommen kann und durch diese Beziehung erst eine Bedeutsamkeit für den Menschen erhält. Dieser Bestimmung zufolge ist die echte Äsopische Fabel die Darstellung irgendeines Zustandes der leblosen und belebten Natur oder eines Vorfalls der Tierwelt, der nicht etwa willkürlich ersonnen, sondern nach seinem wirklichen Vorhandensein, nach treuer Beobachtung aufgenommen und dann so wiedererzählt wird, daß sich daraus in Beziehung auf das menschliche Dasein und näher auf die praktische Seite desselben, auf die Klugheit und Sittlichkeit des Handelns, eine allgemeine Lehre entnehmen läßt. Das erste Erfordernis ist deshalb darin zu suchen, daß der bestimmte Fall, der die sogenannte Moral liefern soll, nicht nur erdichtet und, hauptsächlich, daß er nicht der Art und Weise, wie dergleichen Erscheinungen wirklich in der Natur existieren, zuwider erdichtet sei. Näher sodann muß die Erzählung zweitens den Fall nicht schon selber in seiner Allgemeinheit, sondern, wie dies wiederum in der äußeren Realität der Typus für alles Geschehen ist, seiner konkreten Einzelheit nach und als ein wirkliches Ereignis berichten.

Diese ursprüngliche Form der Fabel gibt ihr drittens endlich die meiste Naivität, weil der Lehrzweck und das Herausheben allgemeiner nützlicher Bedeutungen dann nur als das später Herzukommende, nicht aber als das erscheint, was von Hause aus beabsichtigt war. Deshalb werden die anziehendsten unter den sogenannten Äsopischen Fabeln die sein, welche der angegebenen Bestimmung entsprechen und Handlungen, wenn man diesen Namen gebrauchen will, oder Verhältnisse und Ereignisse erzählen, die teils den Instinkt der Tiere zu ihrer Grundlage haben, teils sonst ein natürliches Verhältnis aussprechen, teils sich überhaupt für sich zutragen können, ohne nur von der willkürlichen Vorstellung zusammengestellt zu sein. Dabei ist es denn aber leicht ersichtlich, daß das den Äsopischen Fabeln in jetziger Gestalt angehängte »fabula docet« entweder die Darstellung matt macht oder häufig wie die Faust auf das Auge paßt, so daß oft vielmehr die entgegengesetzte Lehre oder mehrere besser abgeleitet werden könnten.

Einige Beispiele mögen zur Beleuchtung dieses eigentlichen Begriffs der Äsopischen Fabel hier angeführt werden.

Eiche und Rohr z. B. stehen im Sturmwinde da; das schwanke Rohr wird nur gebeugt, die starre Eiche bricht. Dies ist ein Fall, der bei starkem Sturm sich häufig genug wirklich zugetragen hat; moralisch genommen, ist es ein hochstehender unbeugsamer Mensch einem geringeren gegenüber, der sich in untergeordneten Verhältnissen durch Fügsamkeit zu erhalten weiß, während jener durch Hartnäckigkeit und Trotz zugrunde geht. - Ebenso verhält es sich mit der durch Phädrus aufbewahrten Fabel von den Schwalben. Die Schwalben sehen mit anderen Vögeln zu, wie ein Ackersmann den Leinsamen sät, aus welchem auch die Stricke für den Vogelfang gedreht werden. Die vorsichtigen Schwalben fliegen davon; die übrigen Vögel glauben's nicht: sie bleiben sorglos daheim und werden gefangen. Auch hier liegt ein wirkliches Naturphänomen zugrunde. Es ist bekannt, daß die Schwalben zur Herbstzeit nach südlicheren Gegenden ziehen und deshalb zur Zeit des Vogelfangs nicht da sind. Das gleiche läßt sich auch über die Fabel von der Fledermaus sagen, welche am Tage und zur Nachtzeit verachtet wird, weil sie weder dem Tage noch der Nacht angehört. - Solchen prosaischen wirklichen Fällen wird eine allgemeinere Deutung aufs Menschliche gegeben, wie auch jetzt noch etwa fromme Leute aus allem, was vorkommt, eine erbauliche Nutzanwendung zu ziehen wissen. Dabei ist es aber nicht notwendig, daß das eigentliche Naturphänomen jedesmal sogleich in die Augen springe. In der Fabel z. B. vom Fuchs und Raben ist das wirkliche Faktum nicht im ersten Augenblicke zu erkennen, obschon es nicht gänzlich fehlt; denn es ist die Art der Raben und Krähen, daß sie zu krächzen anfangen, wenn sie fremde Gegenstände, Menschen, Tiere vor sich in Bewegung sehen. Ähnliche Naturverhältnisse liegen der Fabel vom Dornstrauch, welcher den Vorübergehenden Wolle abreißt oder den Fuchs verwundet, der einen Halt an ihm sucht, von dem Landmann, der eine Schlange im Busen erwärmt usf., zugrunde. Andere stellen Vorfälle dar, welche sich unter den Tieren sonst ereignen können: in der ersten Äsopischen Fabel z. B., daß der Adler die Jungen des Fuchses auffrißt und an geraubtem Opferfleische eine Kohle mitführt, die ihm sein Nest entzündet. Andere endlich enthalten altmythische Züge, wie die Fabel vom Roßkäfer, Adler und Jupiter, wo der naturhistorische Umstand - ob er wirklich richtig sei, lasse ich dahingestellt -, daß Adler und Roßkäfer zu verschiedener Zeit ihre Eier legen, vorkommt, zugleich aber eine offenbar traditionelle Wichtigkeit des Skarabäus ersichtlich ist, die hier jedoch bereits ins Komische, wie noch mehr von Aristophanes geschehen, gezogen erscheint. Wieviele nun aber von diesen Fabeln von Äsop selber herrühren, die Vollständigkeit dieser Konstatierung ist hier ohnehin schon dadurch erlassen, daß bekanntlich nur von wenigen, der letztgenannten z. B. vom Roßkäfer und Adler, aufzuzeigen ist, daß sie Äsopisch seien oder daß ihnen überhaupt das Altertum, um als Äsopisch angesehen werden zu können, zukommt.

Von Äsop selber heißt es, er sei ein mißgestalteter, buckeliger Sklave gewesen; sein Aufenthalt wird nach Phrygien verlegt, nach dem Lande, welches den Übergang von dem unmittelbar Symbolischen und dem Gebundensein an das Natürliche zu dem Lande macht, in welchem der Mensch anfängt, das Geistige und sich selbst zu fassen. In dieser Beziehung sieht er zwar das Tierische und Natürliche überhaupt nicht, wie die Inder und Ägypter, als etwas für sich Hohes und Göttliches an, sondern betrachtet es mit prosaischen Augen als etwas, dessen Verhältnisse nur dienen, das menschliche Tun und Lassen vorstellig zu machen; dennoch aber sind seine Einfalle nur witzig, ohne Energie des Geistes oder Tiefe der Einsicht und substantiellen Anschauung, ohne Poesie und Philosophie. Seine Ansichten und Lehren erweisen sich wohl als sinnreich und klug, aber es bleibt nur gleichsam eine Grübelei im kleinen, welche, statt freie Gestalten aus freiem Geiste zu erschaffen, nur gegebenen, vorgefundenen Stoffen, den bestimmten Instinkten und Trieben der Tiere, kleinen täglichen Vorfällen irgendeine weiter anwendbare Seite abgewinnt, weil er seine Lehren nicht offen sagen darf, sondern sie nur versteckt, in einem Rätsel gleichsam, zu verstehen geben kann, das zugleich immer gelöst ist. Im Sklaven fängt die Prosa an, und so ist auch diese ganze Gattung prosaisch.

Dessenunerachtet haben diese alten Erfindungen beinahe alle Völker und Zeiten durchlaufen, und sosehr auch jede Nation, die überhaupt in ihrer Literatur Fabeln kennt, sich mehrere Fabeldichter zu besitzen rühmen mag, so sind deren Poeme doch meist Reproduktionen jener ersten Einfalle, nur in den jedesmaligen Zeitgeschmack übersetzt; und was diese Fabeldichter zu dem ererbten Stock an Erfindungen hinzugetan haben, ist weit hinter jenen Originalien zurückgeblieben.

 


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