1. In den germanischen Ländern
Paracelsus


a) Die tiefsinnige Philosophie des Kusaners trug, im Verein mit der Renaissancestimmung der Zeit überhaupt, mächtig dazu bei, die freieren Geister gerade für ein unbehindertes Studium der Natur zu begeistern. Es machte sich ein leidenschaftlicher Drang nach Natur- und Erfahrungserkenntnis geltend, wie er uns aus dem ersten Monologe von Goethes Faust entgegentönt. Freilich warf sich dieser Drang, namentlich in seinen ungeklärten Anfängen, vielfach noch auf kritikloses Ausbauen eigener Eingebungen und Lieblingsideen. Dahin gehört der vielgewanderte, ruhelose schweizerische Arzt und Chemiker Theophrastus Bombast von Hohenheim (1493 bis 1541), der sich selbst gräzisierend Paracelsus nannte. Seine ursprünglich deutsch, in sinnlich-kraftvoller Sprache geschriebenen Hauptwerke sind später von seinen Anhängern ins Lateinische übersetzt und mehrfach herausgegeben worden: u. a. deutsch von Huser, Basel 1589 ff. und Straßburg 1618, lateinisch Straßburg 1603 ff. und Genf 1658; im Urtext jetzt in einer schön ausgestatteten Neuausgabe von F. Strunz (bei E. Diederichs, Jena) 1904. Strunz hat auch eine populär gehaltene, knappe Monographie: Theophrastus Paracelsus, sein Leben und seine Persönlichkeit (ebenda 1903) veröffentlicht, in der sich Näheres über die neuere Paracelsus-Forschung findet, deren bedeutendstes Werk: Sudhoff, Versuch einer Kritik der Paracelsischen Schriften, 2 Bde. 1894-98 ist.

Zum Mittelpunkte seines Systems macht Paracelsus den schon bei Lullus (s. § 67) auftauchenden Gedanken von der Einheitlichkeit alles Lebens, dem geistigen Zusammenhange des ganzen Universums, der großen und der kleinen Welt (Makrokosmus - Mikrokosmus). Der Mensch (Mikrokosmus) ist nur durch die Welt, die Welt nur durch den Menschen zu erkennen. Nichts in der Natur geschieht durch äußere, alles durch innere Ursachen. Alle Dinge sind beseelt. Entsprechend den drei Welten: der irdischen (»elementarischen«), Sternen- (»siderischen«) und göttlichen (»dealen«), besitzen alle Wesen einen sichtbaren elementarischen und einen unsichtbaren astralischen Leib, wozu bei dem Menschen noch die aus der »dealen« Welt stammende Seele tritt. Alleiniger Gegenstand der Philosophie ist die Erkenntnis der Natur, die man nur durch Belauschen derselben, nicht durch Bücherweisheit erhält. Die Erforschung der siderischen Welt ist Sache der Astronomie, die für Paracelsus und seine Anhänger freilich zum Teil noch in Astrologie aufgeht. Die Theologie hat mit dem »natürlichen Licht« der Philosophie nichts zu tun, sondern ist Sache der Offenbarung und des Glaubens, der er in der letzten Periode seines Lebens eine große Anzahl theologischer Schriften widmete.

Auf den drei Grundpfeilern der Philosophie, Astronomie und Theologie erhebt sich als höchste Wissenschaft die Medizin. Die wichtigste Aufgabe ist daher ihre Reform. Sie besteht vor allem in der Stärkung des jedem Individuum innewohnenden Lebensprinzips, von Paracelsus archeus = Regierer genannt, beziehentlich in der Befreiung desselben von fremden, schädlichen Mächten. Von solchen Mächten oder Kräften, die oft auch als individuelle »Elementargeister« (Salamander, Undinen, Sylphen und Gnomen) beschrieben werden, ist die uns umgebende Natur voll. Die Befreiung erfolgt durch entsprechend zusammengesetzte Stoffe. Seine Alchimie brachte zu dem Zweck eine Musterkarte von Wundertränken und Tinkturen, darunter übrigens auch einige nützliche Neuerungen; den »Stein der Weisen« freilich als Allheilmittel (Panacee) suchte er mit vielen seiner Zeitgenossen vergebens. Der Autoritätssucht, die bis dahin auch in der Medizin geherrscht hatte (Aristoteles, Galen, Avicenna), und allem »Bücherkram« trat Paracelsus kräftig entgegen, zugunsten von Natur und Erfahrung (Experiment), auf die er, bei aller Phantastik (Einzelheiten siehe in Erdmanns Grundriß I, 506-516), doch mit Nachdruck hinweist; wie er denn überhaupt energisch auf die Elemente der modernen Chemie hinstrebt. Allerdings ist bei ihm das Neue mehr naiv-genial erschaut als begrifflich begründet. Der Grundsubstanzen alles Irdischen sind drei: 1. das, was brennt (Sulphur), 2. das, was raucht und sich verflüchtigt (Mercurius), 3. was als Asche zurückbleibt (Sal). Durch das erste wird das Wachstum, durch das zweite die Flüssigkeit, durch das dritte die Festigkeit der Körper bewirkt.

b) Paracelsus fand anfangs fast nur erbitterte Gegner, allmählich aber, besonders nach seinem Tode, doch zahlreiche Schüler, die freilich zumeist die philosophischen Bestandteile seiner Lehre beiseite ließen und sich nur auf das Praktische warfen. Als Nachfolger im weiteren Sinne kann man den fast ein Jahrhundert später lebenden Niederländer Joh. Bapt. van Helmont (1577-1644) betrachten, der für die Entwicklung der Chemie nicht ohne Bedeutung gewesen ist. Ähnlich Paracelsus, nimmt er ein inneres Lebensprinzip als Urferment, daneben eine Urmaterie an. Von den Elementen sind nur Wasser und Luft unwandelbar; Dunst und »Gas« (ein von ihm eingeführtes Wort!) sind nur umgelagerte Wasserteilchen. Auch er will sich ganz auf die Natur, d.h. auf die experimentierende Physik und Chemie verlassen, womit er freilich einen von Neuplatonismus und christlicher Mystik durchsetzten Offenbarungsglauben verbindet. Religion ist für ihn das Streben nach dem Eingehen der menschlichen Lichtnatur in das ewige Lichtzentrum, Gott die eine, absolute Kraft, das wahre Wesen und die bewegende Ursache aller Dinge. Von ihm stammt der unsterbliche, unkörperliche, reine Geist (mens), der jedoch im Menschen mit der vergänglichen, alles Denken, Fühlen und Wollen umfassenden Seele (anima sensitiva), dem Prinzip des physischen Lebens, umkleidet ist, welches die wahre Wesenheit der Dinge nicht zu erkennen vermag. »Ein jedes Ding wird nicht erfaßt, wie es an sich selbst ist, sondern nach der Art dessen, der es annimmt, d. i. dessen, der es betrachtet.« Dieser empfindenden Seele ist wieder, ähnlich wie bei Paracelsus, ein innerer Archeus und diesem die verschiedenen Lebenszentren (archei insiti) unterworfen. Vgl. über Helmont F. Strunz, Johann Baptist von Helmont, Wien 1907. Sein Sohn (•1699) stellte zugleich eine eigentümliche Monadenlehre auf. - Eine Allbeseelung der Natur nimmt auch der schon S. 295 genannte Agrippa von Nettesheim (bei Köln) an, der die Stärke und den Einfluß der vier Elemente quantitativ zu bestimmen suchte, aber einen über ihnen waltenden Weltgeist (Spiritus mundi) als fünftes Element (Quintessenz) annimmt.

Jedenfalls zeigt sich von Nikolaus von Kues an über Paracelsus bis zu den Helmonts ein zunehmendes Bestreben, im Gegensatz zu den »verborgenen Eigenschaften« (qualitates occultae), die nach der aristotelisch- scholastischen Anschauung, von Gott in die Dinge gelegt, in diesen herumspuken, in die Materie selbst den Sitz des Lebens zu verlegen, und unter der vielfach phantastisch mystischen Sprache verbirgt sich doch ein neuer wissenschaftlicher Inhalt. So war wenigstens Raum geschaffen für eine gesetzmäßige Erforschung der Natur, wie wir sie im zweiten Kapitel werden entstehen sehen. Vorläufig jedoch müssen wir die Entwicklung weiter verfolgen, welche die Naturphilosophie im Geburtslande der Renaissance, in Italien nahm.


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