3. Kepler
Johann Kepler (auch Keppler), am 27. Dezember 1571 in einem schwäbischen Dorfe bei Leonberg geboren, 1630 zu Regensburg gestorben, ist, weil er, anders als der Frauenburger Domherr, seine Überzeugung offen aussprach, vielfach umhergetrieben worden, von der Orthodoxie beider Konfessionen angefeindet, mit Not und Verfolgung kämpfend, wenn auch nicht Hungers gestorben (wie Günther im Gegensatz zu früheren Annahmen nachgewiesen hat). Sein Jugendwerk, das Mysterium cosmographicum de admirabili proportione coelestium orbium (1596), bewegt sich, wie schon der Titel zeigt, noch stark in neuplatonisch-pythagoreischen Gedankengängen, aus denen aber schon die Idee hervortritt, dass der göttliche Geist sich in den harmonisch geordneten geometrischen Größenverhältnissen des Weltalls offenbare. In der Weiterverfolgung dieses Weges gelangt er immer mehr von seiner anfänglichen animistischen zur modernen, mathematisch-mechanischen Weltauffassung. Auch Kepler ging von der Überzeugung aus, die schon den Kopernikus beseelt hatte, dass »Einfachheit und geordnete Regelmäßigkeit« die ewigen Prinzipien der Natur sind, die quantitativen Verhältnisse aber diejenigen seien, welche der Menschengeist am sichersten durchschaue. »Nichts als Größen oder durch Größen vermag der Mensch vollkommen zu erkennen.« So fand er nach vierzehnjähriger, unverdrossener Arbeit seine berühmten drei Bewegungsgesetze, durch die Kopernikus' Entdeckung erst mathematisch bewiesen ward und an die Stelle des als »vollkommenste« Figur vom Altertum und Mittelalter vergötterten Kreises die Ellipse trat, welche allein die tatsächliche Planetenbewegung mathematisch zu erklären vermochte. Auch das Ungleichförmige untersteht der Ordnung und den »Gesetzen der Natur« (legibus naturae), wie er seine drei Grundregeln zum ersten Male zu nennen sich erkühnt. So wurde aus dem »kosmographischen Mysterium« von 1596 eine »Physica coelestis«: die »Neue Astronomie« von 1609, dargelegt an »den Bewegungen des Planeten Mars« Kepler will nicht mehr die Ursache dieser Bewegungen ergründen, sondern ihre Gesetze. An die Stelle der »bewegenden Seelen« seiner Jugendschrift sind jetzt, wie er selbst ausdrücklich hervorhebt, »physische Kräfte« getreten, an Stelle der Metaphysik des Aristoteles eine Physik, die eine neue »Arithmetik der Kräfte« in sich schließt; denn der Kraftbegriff wird ihm zum Kraftgesetze. Das Weltgebäude gleicht nicht einem beseelten Geschöpf, sondern einem Uhrwerk. Die Physik aber ruht für ihn auf mathematischem Fundament; denn »wo Materie ist, da ist Geometrie« Auch seine Optik, in der er zuerst das Sehen mechanisch zu erklären versuchte, und seine Akustik (»Harmonik«) behandeln den Lichtstrahl bezw. Ton nur, insofern er Linie bzw. Zahl ist. Ohne mathematische Beweise bin ich blind. Nur die Mathematik erleuchtet das Dunkel, in dem die »Chemiker, Hermetiker und Paracelsisten« schweben. Die Physica coelestis erweitert sich endlich zur Harmonice mundi. Harmonie durchdringt das gesamte Weltall vom Planetenumlauf bis zu den kleinsten Kristallbildungen und bis ins Reich der Töne. Und diese Harmonie ist keine Eigenschaft der Dinge, sondern eine Schöpfung des selbsttätigen Menschengeistes, der dabei neben der intellektuellen Befriedigung auch eine Art ästhetischer Lust empfindet.
In einer Schrift Apologia Tychonis contra Ursum zugunsten des dänischen Astronomen Tycho de Brahe, dessen reiches Forschungsmaterial er erbte und zu seinen Entdeckungen benutzt hat, erörtert Kepler den Begriff der Hypothese genau im platonischen Sinne. Die Wissenschaft muß von Hypothesen ausgehen, d. i. Voraussetzungen, vermittelst deren sich der Zusammenhang der Dinge ohne Widerspruch mit der Erfahrung erklären läßt. Das astronomische System Tychos, das eine Zeitlang dem kopernikanischen bedenkliche Konkurrenz gemacht hatte, wurde übrigens durch Kepler vollständig gestürzt.
Im Laufe seiner wissenschaftlichen Entwicklung hat sich Kepler immer mehr von der aristotelisch-neuplatonischen Denkweise seiner Vorgänger befreit. Wenn er bisweilen doch noch mit Analogien und Symbolen spielt, so erklärt er ausdrücklich, er »vergesse niemals dabei, dass es sich nur um ein Spiel handele«. Den entscheidenden Schritt zur Begründung der mathematischen Physik als selbständiger Wissenschaft tat freilich erst sein großer italienischer Gesinnungs und Zeitgenosse. Am Todestage Michel Angelos wird Galileo Galilei geboren: die Kunst der Renaissance tritt ihr Zepter ab an die mathematische Naturwissenschaft.