Man muß, um sich recht in den Geist des folgenden Briefes zu versetzen, nicht nur die ganze Dürftigkeit eines mit wenig mehr als seinen Schulden und vier Kindern ausgestatteten Pastorenhaushalts im Baltischen vor Augen haben, sondern auch das Haus, in das er gerichtet war: Immanuel Kants Haus am Schloßgraben. Da fand niemand »tapezierte oder herrlich gemalte Zimmer, Gemäldesammlungen, Kupferstiche, reichliches Hausgerät, splendide oder einigen Wert nur habende Meublen, – nicht einmal eine Bibliothek, die doch bei mehreren auch weiter nichts als Zimmermeublierung ist; ferner wird darin nicht an geldsplitternde Lustreisen, Spazierfahrten, auch in spätern Jahren an keine Art von Spielen usf. gedacht.« Trat man hinein, »so herrschte eine friedliche Stille ... Stieg man die Treppe hinauf, so ... ging man links durch das ganz einfache, unverzierte, zum Teil räuchrige Vorhaus in ein größeres Zimmer, das die Putz-Stube vorstellte, aber keine Pracht zeigte. Ein Sofa, etliche mit Leinwand überzogene Stühle, ein Glasschrank mit einigem Porzellan, ein Bureau, das sein Silber und vorrätiges Geld befaßte, nebst einem Wärmemesser und einer Konsole ... waren alle die Meublen, die einen Teil der weißen Wände deckten. Und so drang man durch eine ganz einfache, armselige Tür in das ebenso ärmliche Sans-Souci, zu dessen Betretung man beim Anpochen durch ein frohes ›Herein!‹ eingeladen wurde.« So vielleicht auch der junge Studiosus, der dies Schreiben nach Königsberg brachte. Kein Zweifel, daß es wahre Humanität atmet. Wie alles Vollkommene aber sagt es zugleich etwas über die Bedingungen und die Grenzen dessen, dem es derart vollendeten Ausdruck gibt. Bedingungen und Grenzen der Humanität? Gewiß, und es scheint, daß sie von uns aus ebenso deutlich gesichtet werden, wie sie auf der andern Seite vom mittelalterlichen Daseinsstande sich abheben. Wenn das Mittelalter den Menschen in das Zentrum des Kosmos stellte, so ist er uns in Stellung und Bestand gleich problematisch, durch neue Forschungsmittel und Erkenntnisse von innen her gesprengt, mit tausend Elementen, tausenden Gesetzlichkeiten der Natur verhaftet, von welcher gleichfalls unser Bild im radikalsten Wandel sich befindet. Und nun blicken wir zurück in die Aufklärung, der die Naturgesetze noch an keiner Stelle im Widerspruch zu einer faßlichen Ordnung der Natur gestanden haben, die diese Ordnung im Sinne eines Reglements verstand, die Untertanen in Kasten, die Wissenschaften in Fächern, die Habseligkeiten in Kästchen aufmarschieren ließ, den Menschen aber als homo sapiens zu den Kreaturen stellte, um durch die Gabe der Vernunft allein von ihnen ihn abzuheben. Derart war die Borniertheit, an welcher die Humanität ihre erhabene Funktion entfaltet und ohne die sie zu schrumpfen verurteilt war. Wenn dieses Aufeinanderangewiesensein des kargen eingeschränkten Daseins und der wahren Humanität nirgends eindeutiger zum Vorschein kommt als bei Kant (welcher die strenge Mitte zwischen dem Schulmeister und dem Volkstribunen markiert), so zeigt dieser Brief des Bruders, wie tief das Lebensgefühl, das in den Schriften des Philosophen zum Bewußtsein kam, im Volke verwurzelt war. Kurz, wo von Humanität die Rede ist, da soll die Enge der Bürgerstube nicht vergessen werden, in die die Aufklärung ihren Schein warf. Zugleich sind damit die tieferen gesellschaftlichen Bedingungen ausgesprochen, auf denen Kants Verhältnis zu seinen Geschwistern beruhte: der Fürsorge, die er ihnen angedeihen ließ und vor allem des erstaunlichen Freimuts, mit dem er über seine Absichten als Testator und die sonstigen Unterstützungen sich vernehmen ließ, die er schon bei Lebzeiten ihnen zuwandte, so daß er keinen, weder von seinen Geschwistern »noch ihren zahlreichen Kindern, deren ein Teil schon wieder Kinder hat, habe Not leiden lassen«. Und so, setzt er hinzu, werde er fortfahren, bis sein Platz in der Welt auch vakant werde, da dann hoffentlich etwas auch für seine Verwandten und Geschwister übrig bleiben werde, was nicht unbeträchtlich sein dürfte. Begreiflich, daß die Neffen und Nichten, wie in diesem Schreiben auch später an den verehrten Onkel sich »schriftlich ... anschmiegen«. Zwar ist ihr Vater schon im Jahre 1800, vor dem Philosophen, gestorben, Kant aber hat ihnen hinterlassen, was ursprünglich seinem Bruder zugedacht war.
Johann Heinrich Kant an Immanuel Kant
Altrahden, 21. Aug. 1789.
Mein liebster Bruder!
Es wird wohl nicht unrecht sein, daß wir nach einer Reihe von Jahren, die ganz ohne allen Briefwechsel unter uns verlebt worden, einander wieder nähern. Wir sind beide alt, wie bald geht einer von uns in die Ewigkeit hinüber; billig also, daß wir beide einmal das Andenken der hinter uns liegenden Jahre wieder erneuern; mit dem Vorbehalt, in der Zukunft dann und wann (möge es auch selten geschehen, wenn nur nicht Jahre oder gar mehr als lustra darüber verfließen) uns zu melden, wie wir leben, quomodo valemus.
Seit acht Jahren, da ich das Schuljoch abwarf, lebe ich noch immer als Volkslehrer einer Bauerngemeinde auf meinem Altrahdenschen Pastorate, und ich nähre mich und meine ehrliche Familie frugalement und genügsam von meinem Acker:
Rusticus abnormis sapiens crassaque Minerva.
Mit meiner guten und würdigen Gattin führe ich eine glückliche liebreiche Ehe und freue mich, daß meine vier wohlgebildeten, gutartigen, folgsamen Kinder mir die beinahe untrügliche Erwartung gewähren, daß sie einst brave, rechtschaffene Menschen sein werden. Es wird mir nicht sauer, bei meinen wirklich schweren Amtsgeschäften doch ganz allein ihr Lehrer zu sein, und dieses Erziehungsgeschäft unserer lieben Kinder ersetzt mir und meiner Gattin hier in der Einsamkeit den Mangel des gesellschaftlichen Umganges. Dieses ist nun die Skizze meines immer einförmigen Lebens.
Wohlan liebster Bruder! So lakonisch als Du nur immer willst (ne in publica Commoda pecces, als Gelehrter und Schriftsteller), laß es mir doch wissen, wie Dein Gesundheitszustand bisher gewesen,
wie er gegenwärtig ist, was Du als Gelehrter zur Aufklärung der Welt und Nachwelt
noch in Petto habest. Und dann, wie es meinen noch lebenden lieben Schwestern und
den Ihrigen, wie es dem einzigen Sohne meines seligen verehrungswürdigen väterlichen
Onkels Richter gehe. Gerne bezahle ich Postgeld für Deinen Brief und sollte er auch
nur eine Oktavseite einnehmen. Doch Watson ist in Königsberg, der Dich gewiß besucht
haben wird. Er wird ohnfehlbar bald wieder nach Kurland zurückkommen. Der könnte
mir ja einen Brief von Dir, den ich so sehnlich wünsche, mitbringen.
Der junge Mensch, der Dir diesen Brief einhändigt, namens Labowsky, ist der Sohn eines würdigen,
rechtschaffenen polnischen reformierten Predigers des radcziwilschen Städtchens Birsen;
er geht nach Frankfurt an der Oder, daselbst als Stipendiat zu studieren. Ohe! jam
satis est! Gott erhalte Dich noch lange und gewähre mir bald von Deiner Hand die
angenehme Nachricht, daß Du gesund und zufrieden lebest. Mit dem redlichsten Herz
und nicht perfunctorie zeichne ich mich Deinen Dich aufrichtig liebenden
Bruder
Johann Heinrich Kant.
Meine liebe Gattin umarmt Dich schwesterlich und dankt nochmals herzlich für die Hausmutter, die Du ihr vor einigen Jahren überschicktest. Hier kommen nun meine lieben Kinder und wollen sich durchaus in diesem Briefe à la file hinstellen.
(Von der ältesten Tochter Hand:)
Ja, verehrungswürdiger Herr Onkel, ja, geliebte Tanten,1 Gemeint sind die beiden in Königsberg lebenden Schwestern der Brüder Kant. wir wollen durchaus, daß Sie unser Dasein wissen, uns lieben und nicht vergessen sollen. Wir werden Sie von Herzen lieben und verehren, wir alle, die wir uns eigenhändig unterzeichnen.
Amalia Charlotta Kant.
Minna Kant.
Friedrich Wilhelm Kant.
Henriette Kant.
- Gemeint sind die beiden in Königsberg lebenden Schwestern der Brüder Kant.↩