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Unter den Hölderlin'schen Briefen aus dem Jahrhundertanfang gibt es kaum einen, der nicht Sätze enthielte, die hinter den bleibenden seiner Gedichte in nichts zurückstehen. Und doch ist nicht dieser anthologische Wert ihr höchster. Vielmehr ist es ihre einzigartige Transparenz, dank deren die schlichten hingebenden Briefe den Blick ins Innere von Hölderlins Werkstatt freigeben. Die »Dichterwerkstatt« – selten mehr als eine abgenutzte Metapher hier kommt die Wendung zu ihrem Sinn, indem es für Hölderlin in jenen Jahren keine sprachliche Verrichtung, und sei es die alltägliche Korrespondenz, mehr gibt, der er nicht mit der meisterhaften, präzisen Technik seiner späten Dichtungen nachginge. Die Spannung, die so in seine Gelegenheitsschreiben kommt, rückt noch die unscheinbarsten Geschäftsbriefe, geschweige denn die Briefe an die Seinen, in die Nähe so ungewöhnlicher Dokumente, wie es die folgende Nachricht an Böhlendorf ist. Casimir Ulrich Böhlendorf (1775–1825) war Kurländer. »Wir haben ein Schicksal« hat ihm Hölderlin einmal geschrieben. Das Wort besteht, sofern es das Verhältnis betrifft, in das die äußere Welt zu einem enthusiastischen, verwundbaren Gemüt trat. So wenig im Dichterischen zwischen beiden auch nur die geringste Analogie obwaltet, – das Bild des unsteten, wandernden Hölderlin, das der folgende Brief bewahrt, taucht schmerzhaft vergröbert in dem Nachruf auf, den ein lettisches Zeitungsblatt Böhlendorf widmete: »Gott hatte ihm eine besonders gute Begabung mitgegeben. Aber er wurde geisteskrank, und da er überall fürchtete, daß die Menschen ihm seine Freiheit nehmen wollten, wanderte er mehr als zwanzig Jahre umher, viele Mal ganz Kurland und einige Mal auch Livland zu Fuß durchquerend. Der verehrte Leser... wird ihn, mit dem Bündel mit Büchern auf der Landstraße wandernd, gesehen haben.« – Hölderlins Brief nun ist gänzlich auf jene Worte ausgerichtet, welche die späten Hymnen beherrschen: heimatliche und griechische Art, Erde und Himmel, Popularität und Zufriedenheit. Auf schroffen Höhen, wo der nackte Fels der Sprache schon überall an Tag tritt, sind sie, trigonometrischen Signalen gleich, »die höchste Art des Zeichens« und an ihnen vermißt der Dichter die Länder, welche »die Herzens- und Nahrungsnot« ihm eröffnete als Provinzen des griechischen. Nicht des blühenden idealen, sondern des verödeten wirklichen, dessen Leidensgemeinschaft: mit dem abendländischen und vor allem dem deutschen Volkstum das Geheimnis der historischen Wandlung, der Transsubstantiation des Griechentums ist, das von Hölderlins letzten Hymnen den Gegenstand bildet.

Friedrich Hölderlin an Casimir Böhlendorf

Nürtingen, den 2. Dezember 1802.

Mein Teurer!
Ich habe Dir lange nicht geschrieben, bin indes in Frankreich gewesen und habe die traurige einsame Erde gesehen; die Hütten des südlichen Frankreichs und einzelne Schönheiten, Männer und Frauen, die in der Angst des patriotischen Zweifels und des Hungers erwachsen sind. Das gewaltige Element, das Feuer des Himmels und die Stille der Menschen, ihr Leben in der Natur, und ihre Eingeschränktheit und Zufriedenheit, hat mich beständig ergriffen, und wie man Helden nachspricht, kann ich wohl sagen, daß mich Apollo geschlagen.
In den Gegenden, die an die Vendée grenzen, hat mich das Wilde, Kriegerische interessiert, das rein Männliche, dem das Lebenslicht unmittelbar wird in den Augen und Gliedern und das im Todesgefühle sich wie in einer Virtuosität fühlt, und seinen Durst zu wissen, erfüllt. Das Athletische der südlichen Menschen, in den Ruinen des antiken Geistes, machte mich mit dem eigentlichen Wesen der Griechen bekannter; ich lernte ihre Natur und ihre Weisheit kennen, ihren Körper, die Art, wie sie in ihrem Klima wuchsen, und die Regel, womit sie den übermütigen Genius vor des Elements Gewalt behüteten. Dies bestimmte ihre Popularität, ihre Art, fremde Naturen anzunehmen und sich ihnen mitzuteilen. Darum haben sie ihr eigentümlich Individuelles, das lebendig erscheint, sofern der höchste Verstand im griechischen Sinne Reflexionskraft ist, und dies wird uns begreiflich, wenn wir den heroischen Körper der Griechen begreifen; sie ist Zärtlichkeit, wie unsere Popularität.
Der Anblick der Antiken hat mir einen Eindruck gegeben, der mir nicht allein die Griechen verständlicher macht, sondern überhaupt das Höchste der Kunst, die auch in der höchsten Bewegung und Phänomenalisierung der Begriffe und alles ernstlich Gemeinten dennoch alles stehend und für sich selbst erhält, so daß die Sicherheit in diesem Sinne die höchste Art des Zeichens ist. Es war mir nötig, nach manchen Erschütterungen und Rührungen der Seele mich festzusetzen auf einige Zeit, und ich lebe indessen in meiner Vaterstadt.
Die heimatliche Natur ergreift mich umso mächtiger, je mehr ich sie studiere. Das Gewitter, nicht bloß in seiner höchsten Erscheinung, sondern in eben dieser Ansicht, als Macht und als Gestalt, in den übrigen Formen des Himmels, das Licht in seinem Wirken, nationell und als Prinzip und Schicksalsweise bildend, daß uns etwas heilig ist, sein Gang im Kommen und Gehen, das Charakteristische der Wälder und das Zusammentreffen in einer Gegend von verschiedenen Charakteren der Natur, daß alle heiligen Orte der Erde zusammen sind um einen Ort und das philosophische Licht um mein Fenster sind jetzt meine Freude; daß ich behalten möge, wie ich gekommen bin, bis hieherl Mein Lieber! ich denke, daß wir die Dichter bis auf unsere Zeit nicht kommentieren werden, sondern daß die Sangart überhaupt wird einen anderen Charakter nehmen, und daß wir darum nicht aufkommen, weil wir, seit den Griechen, wieder anfangen, vaterländisch und natürlich, eigentlich originell zu singen.
Schreibe doch nur mir bald. Ich brauche Deine reinen Töne. Die Psyche unter Freunden, das Entstehen des Gedankens im Gespräch und Brief ist Künstlern nötig. Sonst haben wir keinen für uns selbst, sondern er gehöret dem heiligen Bilde, das wir bilden. Lebe recht wohl!

Dein H.