Als 1792 die Franzosen in Mainz einrückten, war Georg Forster dort kurfürstlicher Bibliothekar. Er stand in den Dreißigern. Ein reiches Leben lag hinter ihm, das ihn als Jüngling schon, in der Gefolgschaft seines Vaters, an einer Weltumseglung – der Cookschen, 1772–1775 – hatte teilnehmen, aber auch schon als Jüngling – mit Übersetzungs- und Gelegenheitsarbeiten – die Härte des Daseinskampfes hatte spüren lassen. Das Elend der deutschen Intellektuellen seiner Zeit hat Forster dann in langen Wanderjahren so gut kennen gelernt wie ein Bürger, Hölderlin oder Lenz; es war aber seine Misere nicht die des Hofmeisters in irgend einer kleinen Residenz, sondern ihr Schauplatz war Europa, und darum war er fast als einziger Deutscher vorbestimmt, die europäische Erwiderung auf die Zustände, welche sie veranlaßten, von Grund auf zu verstehen. 1793 ging er als Delegierter der Stadt Mainz nach Paris und ist, nachdem die Deutschen durch die Rückeroberung der Stadt und seine Ächtung die Heimkehr ihm verlegt hatten, dort bis zu seinem Tode, im Januar 1794, geblieben. Hin und wieder hat man Stellen aus seinen Pariser Briefen herausgegeben. Aber damit war wenig getan. Denn sie sind ein Ganzes, nicht nur als Folge, die in der deutschen Briefliteratur kaum ihresgleichen hat, sondern beinahe jeder einzelne ist es, von der Anrede bis zur Signatur unerschöpflich an Ergießungen, welche aus einer bis zum Lebensrande vollen Erfahrung kommen. Was revolutionäre Freiheit und wie sehr auf Entbehrung angewiesen sie ist, hat damals schwerlich einer wie Forster begriffen, niemand wie er formuliert: »Ich habe keine Heimat, kein Vaterland, keine Befreundeten mehr, alles, was sonst an mir hing, hat mich verlassen, um andere Verbindungen einzugehen, und wenn ich an das Vergangene denke und mich noch für gebunden halte, so ist das bloß meine Wahl und meine Vorstellungsart, kein Zwang der Verhältnisse. Gute, glückliche Wendungen meines Schicksals können mir viel geben; schlimme können mir nichts nehmen, als noch das Vergnügen, diese Briefe zu schreiben, wenn ich das Porto nicht mehr bezahlen kann.«
Georg Forster an seine Frau
Paris, den 8. April 1793.
Ich warte keine neuen Briefe von Dir ab, meine Gute, um Dir zu schreiben. Wüßte ich nur, daß Du beruhigt wärst. Ich bin bei allem, was mir widerfahren kann, vollkommen ruhig und gefaßt. Erstlich ist, weil Mainz blockiert ist, darum noch nicht alles verloren; allein wenn ich auch nie mehr ein Blatt Papier wiedersehen sollte von allem, was ich dort habe, so soll mich's nicht anfechten. Der erste schmerzliche Eindruck dieses Verlustes ist vorbei, ich denke nicht mehr daran, nachdem ich durch Custine Maßregeln getroffen habe, um womöglich zu retten, was zu retten ist. Bleibe ich nur mir selbst, so will ich schon für Euch so arbeiten, daß bald alles nachgeholt sein soll. Mein bißchen Eigentum ging doch nicht viel über dreihundert Carolin an Wert, denn was ich an Papieren, Zeichnungen und Büchern verlor, will ich gar nicht rechnen. Ich bin hier auf dem Fleck der Erde, wo man mit etwas gutem Willen zur Arbeit und etwas Fähigkeit um Brot nicht bange sein darf. Meine zwei Mitdeputierten sind schon übler daran; indessen bekommen wir doch Diätengelder, bis auf andere Art für uns gesorgt ist. Längst schon suche ich mir anzugewöhnen, au jour la journée zu leben, und nicht mehr mit sanguinischen Hoffnungen schwanger zu gehen; ich finde das philosophisch wahr und mache Progressen darin. Ich glaube auch, wenn man dabei nichts versäumt, was zu unserm Fortkommen und zur Sicherstellung unserer Lage gehört, so ist es das einzige, was uns immer gut gelaunt und unabhängig erhalten kann.
Aus der Ferne sieht alles anders aus, als man's in der näheren Besichtigung findet. Dieser Gemeinspruch drängt sich mir hier sehr auf. Ich hänge noch fest an meinen Grundsätzen, allein ich finde die wenigsten Menschen ihnen getreu. Alles ist blinde, leidenschaftliche Wut, rasender Parteigeist und schnelles Aufbrausen, das nie zu vernünftigen, ruhigen Resultaten gelangt. Auf der einen Seite finde ich Einsicht und Talente, ohne Mut und ohne Kraft; auf der andern eine physische Energie, die, von Unwissenheit geleitet, nur da Gutes wirkt, wo der Knoten wirklich zerhauen werden muß. Oft sollte man ihn aber lösen und zerhaut ihn doch. Es steht jetzt alles auf der Spitze. Freilich glaube ich nicht, daß die Feinde reussieren werden; aber die Nation wird endlich auch müde werden, immer ganz aufstehen zu müssen. Es kommt also darauf an, wer am längsten aushält. Die Idee, daß die Eigenmacht in Europa vollends unerträglich werden muß, wenn Frankreich jetzt seine Absicht nicht durchsetzt, empört mich immer so sehr, daß ich sie mir von allem Glauben an Tugend, Recht und Gerechtigkeit nicht abgesondert denken kann, und lieber an diesen allen verzweifeln, als jene Hoffnung vereitelt sehen möchte. Der ruhigen Köpfe hier sind wenige oder sie verstecken sich; die Nation ist, was sie immer war, leichtsinnig und unbeständig, ohne Festigkeit, ohne Wärme, ohne Liebe, ohne Wahrheit – lauter Kopf und Phantasie, kein Herz und keine Empfindung. Mit dem allen richtet sie große Dinge aus, denn gerade dieses kalte Fieber gibt ihnen (den Franzosen) ewige Unruhe und den Schein von allen edeln Anregungen, wo doch nur Enthusiasmus der Ideen, nicht Gefühl der Sache vorhanden ist.
Ich bin noch in keinem Schauspiel gewesen, denn ich gehe so spät zu Tisch, daß ich selten dazu kommen kann; auch interessiert es mich wenig und die bisherigen Stücke haben mich nicht gereizt. Vielleicht bleibe ich noch eine Zeitlang hier, vielleicht setzt man mich auf einem Büro in Arbeit, vielleicht verschickt man mich; ich bin auf alles gefaßt, zu allem bereit. Das ist der Vorteil meiner Lage, wo man an nichts mehr gebunden ist und auf nichts mehr in der Welt als seine sechs Hemden acht zu geben hat. Mir bleibt nur die einzige Unannehmlichkeit, daß ich auf das Schicksal muß alles ankommen lassen, und das tue ich gern, denn im Grunde steht man sich bei diesem Vertrauen doch nicht übel. Ich sehe wieder das erste Grün der Bäume mit Vergnügen; es ist mir weit rührender als das Weiß der Blüten.